Einer kurdischen Familie aus Winsen droht die Abschiebung in die Türkei

Winsen. Wer die 72 Quadratmeter-Wohnung betritt, spürt die Angst durch die Räume kriechen. Die Fenster bleiben geschlossen, sperren die schlechten Nachrichten aus. Es gibt nur wenige Möbel, das bisschen Hab und Gut steckt ordentlich verstaut in großen Plastiktüten. Die Menschen, die hier wohnen, sind auf dem Sprung, so scheint es - und wehren sich doch mit Händen und Füßen, gehen zu müssen.

"Können Sie uns helfen?", fragt Senal Bozyigit, die dunklen Augen der 19-Jährigen sind weit aufgerissen. Sie weiß, was sie zu sagen hat: Dass ihrer Mutter Songül, einer kurdische Aktivistin und ihren fünf Kindern die Abschiebung in die Türkei droht und dort Gefängnishaft - und den drei ältesten Töchtern die Zwangsehe. Ihr Vater sei bereits 2007 abgeschoben worden.

Doch wer sich mit Senal verabredet, um ihre Geschichte zu hören, hat die junge Frau nicht für sich allein. Neugierig stehen ihre Geschwister um sie herum. Auch ihre Tante ist in die Einsteinstraße gekommen - dass die Redakteurin allein mit ihrer Nichte sprechen möchte, findet sie nicht gut. "Meine Tante sagt, wir sollen alles zusammen besprechen", übersetzt Senal ihren Protest. Die soziale Kontrolle ist groß.

Am 13. September 2002 landete die heute 38 Jahre alte Songül Bozyigit mit ihrem jüngsten Sohn Berat auf dem Flughafen Hannover. Schlepper besorgten ihr ein Visum, Reisepässe. 3000 Euro kostete das erkaufte neue Leben. Ihre Töchter Senal, Ömmöhan, Sömöyye, heute 18 und 17, folgten. Die Familie wurde in einem Ausländerwohnheim in Meckelfeld untergebracht. Dort kam ihre jüngste Tochter Nesren zur Welt.

Im Dezember 2002 stellte die Familie einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Braunschweig. Fast drei Stunden dauerte die Anhörung: Immer wieder habe Songül Bozyigit Guerillakämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstützt, ihnen Kleider und Lebensmittel beschafft. Auch ihr Mann habe der PKK nah gestanden, sei 1996 vor der Folterstrafe in die BRD geflüchtet. Danach habe sie selbst unter Beobachtung der Sicherheitskräfte gestanden. Im März 2000 sei Songül Bozyigit das erste Mal verhaftet worden - und erlebte sieben Tage Folter und Demütigungen.

"Sie zogen mich aus. Anschließend brachten sie Drähte an meinen Brustwarzen an und gaben mir Stromschläge", brachte sie damals zu Protokoll. Nach ihrer Freilassung suchte Songül Bozyigit Hilfe bei der PKK nahen HADEP, der "Partei der Demokratie des Volkes", trat einer Frauengruppe bei. Wieder nahm sie an Demonstrationen teil, verteilte Flugblätter. Aus Angst vor neuer Verfolgung, habe sie sich zusammen mit ihren Kindern versteckt. Trotzdem sei sie im Juni 2002 erneut verhaftet worden, wurde 15 Tage lang beschimpft, gedemütigt. Nach ihrer Freilassung hätte sie sich zwei Mal pro Woche auf der Polizeistation melden müssen - doch Songül Bozyigit entschied sich zu fliehen.

Eine ergreifende Geschichte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge glaubte sie nicht. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, Abschiebung drohte.

"Ich habe Songül Bozyigit als sehr starke Frau kennengelernt", sagt Rechtsanwalt Enno Jäger aus Hamburg-Altona und blättert in der Akte Bozyigit. Nach der Ablehnung klagte die Familie auf Wiederaufnahme des Asylverfahrens - Enno Jäger vertrat sie vor dem Verwaltungsgericht Lüneburg. Auch hier fiel das Urteil zu Ungunsten der Familie aus. Während des Prozesses datierte die fünffache Mutter ihre zweite Inhaftierung nicht auf den Juni 2002 sondern 2000. Hatte sie sich vertan oder alles nur erfunden? Richter Jörg Malinoski konnte die Wahrheit nicht ermitteln, wies die Klage ab. Der Anwalt startete noch einen Versuch, aber auch diese Klage wurde 2008 abgewiesen.

"Immer wieder kämpfen, klagen, hoffen, das hat meine Mutter psychisch krank gemacht", sagt Senal traurig und schaut hinüber zu dem Sessel, in dem ihre Mutter sitzt, wie erstarrt. Sie spreche nicht mehr. Nur manchmal fange sie plötzlich an zu schreien. Dann haben Senals kleine Geschwister Angst vor ihrer Mutter.

Die älteren Töchter haben Angst vor einem Leben in der Türkei - dem fremden Land. "Ich kann mich an meine Kindheit dort nicht mehr erinnern", sagt Ömmöhan. Sie war zehn, als sie ihre Heimat verlassen hat. In der Hauptschule Meckelfeld sei sie das einzige türkische Mädchen gewesen. "Am Anfang habe ich nichts verstanden, aber meine Lehrer haben mir sehr geholfen." Was sie werden möchte? "Polizistin." Auch Senal hatte die Hauptschule besucht, auf den Berufsbildenden Schulen Winsen wollte sie ihren Realschulabschluss nachholen. Sich dort anzumelden, lohne sich jetzt nicht mehr. Wenn sie ausgewiesen werden, werde ihre Mutter verhaftet, sobald sie aus dem Flugzeug steigt.

Was dann aus ihnen wird? "Meine Großeltern können sich nicht um fünf Kinder kümmern." Drei Cousins wurden als Ehemänner bereits ausgesucht. Für die westlich aufgewachsenen Mädchen unvorstellbar. "Das wäre so, als ob wir unsere Brüder heiraten müssten." Eine andere Wahl haben sie nicht. Dabei stellen sie sich ihr Leben anders vor, frei, so wie man in Deutschland halt leben könne. "Ich möchte mir aussuchen dürfen, wen ich heirate", sagt Senal. Verliebt hat sie sich schon. Ihr Freund wohnt in Hamburg. In eine türkische Ehe muss sie als Jungfrau gehen. Senal nickt, und schlägt die Augen nieder.

Der Landkreis Harburg hat die Familie bis zu ihrer Abschiebung in der Winsener Wohnung untergebracht. "Uns sind die Hände gebunden", sagt Georg Krümpelmann, Sprecher des Landkreises, auf Nachfragen der Rundschau, "wir handeln im Auftrag des Landes Niedersachsen. Ob der Familie wirklich politische Verfolgung droht oder das nur behauptet wird, können wir nicht beurteilen."

Und doch wird zur Zeit durch eine Amtsärztliche Untersuchung der Gesundheitszustand der Mutter geprüft. Erweist sich dieser als zu schlecht, darf die Familie doch bleiben. "Drücken Sie uns die Daumen", scheinen Senals großen Augen zum Abschied zu sagen.