In der IGS Lüneburg wird bereits nach dem Modell unterrichtet, das die Nachbar-Landkreise erst im nächsten Schuljahr bekommen

Lüneburg. Von Unsicherheit keine Spur. Lea Kressel und Juliana Blais halten selbstbewusst Augenkontakt zu den anderen Schülern. Die Füße locker übereinander geschlagen berichten sie gelöst von ihren Erfolgen und Rückschlägen. Sie erzählen, was ihnen beim Bau ihrer Sambarasseln besonders gut gelungen ist und was nicht. Die Situation erinnert etwas an ein Meeting auf einer Chefetage, zu der ein Geschäftsführer gerufen hat, um zu erfahren, wie es um ein Projekt steht. Von Zwischenberichten, Ich-Plänen und Erinnerungen ist die Rede.

Doch es gibt einen winzigen Unterschied: Die Redner sind gerade mal elf Jahre alt. Der Chef ist Nicole Troué, Lehrerin an der Integrierten Gesamtschule (IGS) Lüneburg. 37 Jahre alt. Turnschuhe. Blonde hoch gesteckte Haare und ein freundliches Lächeln im Gesicht. Sie leitet das Projekt "Musikinstrumente bauen".

Der Projektunterricht gehört zum Alltag der Gesamtschule in Lüneburg. Vor etwa einem Jahr ist die IGS, in der Gymnasiasten, Real- und Hauptschüler gemeinsam lernen, an den Start gegangen. In drei Monaten lernen die Fünftklässler, ihr eigenes Instrument zu bauen. Sie erfahren, was es heißt, selbstständig zu arbeiten, sich Ziele zu setzen und Hürden zu überwinden.

Erst wird gesungen, dann wird gebastelt

Vor dem Bauen wird aber erst einmal gesungen. "Aufwärmphase" nennt Troué das. Doch halt. Eine Schülerin hebt den Finger. "Macht es was, wenn mein Instrument keinen Ton macht?", will sie wissen. Schülersorgen. Troué lächelt etwas und beschwichtigt: "Das kriegen wir schon hin. Wäre ja doof, wenn eine Flöte nicht flötet." Dann singen alle kräftig "O-O-Otto fährt Au-au-auto... Vorfahrt achten, Bordsteinkante, rote Ampel, dicke Tante, quietsch, Vollbremsung. Endlich kommt der Polizist. So ein Mist".

Nach dem Gassenhauer wechseln die Kinder ihre Plätze und setzen sich an zwei Tischreihen mit Blumen- und Kringeldecken. Keiner schert aus oder stört. Wenn der Lärmpegel zu einem lauten Brummen anschwillt, setzt die Lehrerin ein einfaches Zeichen ein: Sie hebt den rechten Arm und legt den linken Zeigefinger auf ihre Lippen. Es dauert nur wenige Sekunden, und die Schüler sind ruhig.

Das kontinuierliche Training mit diesem Handzeichen verwandelte Störenfriede in wohlerzogene Heranwachsende. Denn auch die anderen Lehrkräfte heben ihren Arm, um so Ruhe in ihren Klassen einkehren zu lassen. "Es hat gedauert. Aber irgendwann haben die Schüler gemerkt, dass es auch für sie von Vorteil ist, wenn der Unterricht reibungslos verläuft", sagt Troué. Eine viel härtere Nuss, die sie jeden Tag zu knacken hat, ist die Heterogenität der Kinder. "Allen unterschiedlichen Schülern gerecht zu werden, zu schauen wie es ihnen geht, was sie brauchen - das ist die große Herausforderung", sagt die blonde Lehrerin. Eine neue Situation. Für die Lehrer. Und für die Kinder. Auch sie müssen sich daran gewöhnen, dass sie bei der Arbeit weitestgehend sich selbst überlassen sind.

Die einen Schüler kommen damit besser klar als andere. "Es sind auch einige Kinder in der Gruppe, die noch nicht erfasst haben, dass sie selber für ihren Erfolg verantwortlich sind." Sie vergessen ihr Material, sprinten durch den Raum und rangeln.

Dann muss Troué schon mit regulären Druckmitteln arbeiten. Solche Kinder bekommen Zusatzaufgaben aufgebrummt. Doch heute ist ein guter Tag. Friedlich beugen sich die Schüler über ihre kleinen Kunstwerke. Sie kleistern, malen, sägen, schnitzen, und unterstützen sich dabei gegenseitig. Wer nicht weiterkommt, wendet sich an die Lehrerin. Ohne Fingerschnipsen. Ohne lautes Krakeelen nach "Frau Troué". Die Schüler schreiben lediglich ihren Namen an die Tafel, und die Lehrerin sucht die Hilfesuchenden dann auf. Noch so ein Kniff, der für ruhigen Unterricht sorgt.

Die Lehrerin verteilt Pflicht- und Zusatzaufgaben

Manche Kinder arbeiten völlig autark - zum Beispiel das Trio aus Matti, Jakob und Konrad. Das Team braucht kaum Hilfe. Die Jungen sprechen untereinander ab, was als nächstes zu tun ist. "Geht die Schraube da durch?" "Nein, komm, wir gehen bohren." Sie zählen zu den Leistungsträgern in der Klasse. Das zeigt sich allein am Instrument, das sie ausgewählt haben: einen "Bumbass". Das Werkstück, das - sobald es fertig ist - Basstöne von sich geben soll, sieht so ungewöhnlich aus wie der Name klingt. Ein pinkfarbener Luftballon, der als Tonverstärker dient, klemmt zwischen Schnur und Holzleiste. Der Bau ist kompliziert. Die Anleitung haben sich die Schüler aus dem Internet herunter geladen.

"Die Kinder trauen sich entsprechend ihrem Niveau selbst etwas zu", sagt Troué. Die einen wagen sich an einen Bumbass oder an ein Cajón (Kistentrommel aus Südamerika) heran. Andere wollen eine Blechtrommel oder eine Panflöte bauen. "Ich greife nur ein, wenn Schüler sich zu wenig vorgenommen haben", sagt Troué. Ähnlich läuft der Fachunterricht ab. Die Lehrerin verteilt in Mathematik Pflicht- und Zusatzaufgaben. Lernschwache Kinder hält sie dazu an, Aufgaben zu wiederholen. Die Cleveren fordert sie zu anspruchsvollerer Mathematik heraus.

Am Ende der Zielgeraden steht für viele das Zentralabitur. "Die Schüler sind hier genauso gut oder genauso schlecht wie auf einem regulären Gymnasium", sagt die Lehrerin. Aber Troué weiß, dass solche Aussagen bei den härtesten Kritikern ungehört verhallen. "Die Angst, dass leistungsstarke Kinder auf einer Gesamtschule auf der Strecke bleiben, kann ich den meisten Eltern nicht nehmen. Für viele Mütter und Väter ist erst das Abitur der Beweis."

Noten werden auf der Lüneburger Gesamtschule indes erst ab Klasse sieben und nicht in den fünften und sechsten Klassen vergeben. Sie seien nicht aussagekräftig, sagt Troué. Statt Zeugnisse gibt es "Lernentwicklungsberichte". Statt Tests "Rückmeldungen".

Auch die Schüler üben am Ende eines Schuljahres Kritik. Selbstkritik. Sie notieren auf einer Seite, wie sie sich selber einschätzen - ob sie pünktlich waren und dem Unterricht folgten. Was ihnen am besten gefallen hat und warum. Da ist sie wieder - die Unterscheidung nach "gut gelungen" und "weniger gut gelungen". Eben wie im Berufsleben.