Mit erhobenem Zeigefinger sagte die Mutter streng zu ihrem Jungen: “Mathias, du sollst nicht lügen!“ Mathias blickte schuldbewusst zur Seite, als die Mutter sein Verhalten laut tadelte. Der Kleine musste auf der Straße eine Standpauke über sich ergehen lassen.

Mathias verfügte wohl noch nicht über die menschliche Erfahrung, um bei einer Lüge nicht erwischt zu werden. Für Kinder sind Lügen oft Notlügen. Sie haben Angst vor unangenehmen Folgen von Handlungen, die sie nicht kennen und an die sie vorher nicht gedacht haben. Bei Erwachsenen sind manche Lügen der Schutz vor unangenehmen Folgen von Handlungen, die sie kennen und an die sie vorher durchaus gedacht haben. Deshalb sind sie so peinlich, wenn sie aufgedeckt werden.

Höflichkeitslügen und Lügen aus Rücksicht sind wohl verzeihbar. Lügen können aber auch amüsant und unterhaltsam sein. Dazu gehört das Seemannsgarn, das Seeleute spinnen, wenn sie unglaubliche Erlebnisse vorlügen. Dabei fällt mir ein: Vor Jahren besuchte ich einmal in Südirland einen Lügengeschichten-Wettbewerb als Zuhörer. Begeistert johlten und klatschten die Zuhörer, wenn der Erzähler schilderte, wie er bei Vollmond von Wiesen-Feen durch unkeusche Tänze verführt wurde. Oder wenn schuppige Kobolde mit Flossenfüßen nachts heimlich den Whisky-Vorrat der Hafenkneipen aussoffen.

Womöglich erfüllten diese Leute mit Lügengeschichten ein Bedürfnis: Nämlich die klare Trennung von Lüge und Wahrheit, die sonst so selten vorkommt. Sollten wir vielleicht alle ab und zu amüsante Lügengeschichten erzählen?