Eine gute Kinderstube ist wichtig - aber wäre das Leben nicht einfacher ohne? Man könnte sich an der Kasse vordrängen, man könnte anderen den Parkplatz vor der Nase wegnehmen, man könnte den Hund einfach auf den Gehsteig koten lassen oder man könnte sich die Samstagnacht mit lautem Gesang verschönen.

Allerdings wäre man dann nicht sehr beliebt: Manieren werden erwartet. Beim kultivierten Speisen im Fastfoodrestaurant ist man ja schon dankbar, wenn der Nachbar wenigstens die Hände beim Essen zur Hilfe nimmt. Gute Erziehung zeigt auch, wer sich zurückhält, obwohl er dem im Zug laut Musik vom Handy hörenden Mitmenschen das Ding am liebsten zum Verzehr verabreichen würde.

Erziehung birgt aber auch Risiken. Ich musste das vor einigen Tagen am Hamburger Hauptbahnhof feststellen. Beim Gedanken an meinen gestrengen Vater fühlte ich mich nämlich gehalten, gleichsam als Ritter in glänzender Rüstung, einer zierlichen alten Dame von etwa 70 Jahren den Koffer aus dem Zug zu heben. Der Gedanke, auf ihre hübsche, blonde Begleiterin Eindruck zu machen, mag dabei eine Rolle gespielt haben. Mit einem gemurmelten "darf ich Ihnen helfen" griff ich entschlossen nach dem riesigen, rosafarbenen Reisekoffer - da geschah das Unerwartete.

Kaum hatte ich die Hand ausgestreckt, schrie es gellend aus dem Zug: "Hilfe! Hilfe, ein Dieb! Der Kerl will den Koffer klauen! Haltet den Dieb!" Meine glänzende Rüstung zerbröselte in tausend Stücke. Bevor die Umstehenden reagieren konnten, machte ich mich mit glühenden Ohren aus dem Staub und verzichtete umständehalber auf einen Abschiedsgruß.