Stalking, sexueller Missbrauch, Mobbing, Morddrohung - die Palette an zugefügtem Leid ist groß.

Winsen. Nervös greift Petra Zimmermann* nach dem Anhänger an ihrem Armband. "Den Engel habe ich von meiner Soforthilfe gekauft", sagt die 39-Jährige. Ihre Stimme zittert. Kurz hält sie inne, atmet tief durch: "Er steht für den Weißen Ring, ich werde ihn mein Leben lang bei mir tragen."

Das Leben, so wie Petra Zimmermann es kannte, zerbrach an einem Sonnabend im November 2008. "Mein Vater war Alkoholiker, solange ich denken kann", erzählt sie. "Meine Mutter wollte sich von ihm trennen. Das wollte er nicht akzeptieren." Es gab sogar eine Einstweilige Verfügung, die ihm untersagte, sich seiner Frau zu nähern. Ein Stück Papier, das sie nicht schützen konnte. Der Vater erstach die Mutter.

Und Petra Zimmermann fiel in ein schwarzes Loch. "Ich konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr arbeiten." Um wieder auf die Beine zu kommen, wollte sie eine Kur in einer Psychosomatischen Klinik beantragen, bei der ihre fünfjährige Tochter mitkommen könnte, pädagogisch betreut würde. "Doch die Rentenversicherung wollte mir eine solche Kur nicht bewilligen." Petras Ärztin riet ihr, sich an den Weißen Ring zu wenden.

Damit gehört Petra Zimmermann zu Hunderten von Opfern, die jedes Jahr die Nummer des Kriminalitätsopferschutz-Vereins wählen. Allein 2009 konnten die 16 ehrenamtlichen Mitarbeiter des Weißen Rings im Landkreis Harburg in 69 Fällen helfen.

"Stalking, Nachbarschaftsstreitigkeiten, sexueller Missbrauch, Mobbing, Ehrenmordsandrohungen - die Palette an zugefügtem Leid ist groß", sagt Günter Bornfleth, Leiter der Außenstelle des Weißen Rings im Landkreis Harburg und schlägt seinen Aktenordner auf. Hunderte Schicksale, jedes in einem eigenen Vorgang festgehalten. "Manchen ist schon nach zwei oder drei Beratungs-Gesprächen geholfen, andere begleiten wir bei Behördengängen, zu Gerichtsterminen." Auch finanzielle Unterstützung kann der Weiße Ring leisten, der sich komplett über Spendengelder finanziert. "Wir übernehmen zum Beispiel Rechtsanwalts-, Fahrtkosten oder die Miete", erklärt Günter Bornfleth. Für Petra Zimmermann erstritt der Weiße Ring eine vierwöchige Kur.

14 Millionen Euro standen dem Opferschutz-Verein 2009 für solche Hilfen deutschlandweit zur Verfügung. Welcher Anteil davon in die einzelnen Landkreise fließt, hängt von den dortigen Opfer-Zahlen ab. Im Landkreis Harburg standen im vergangenen Jahr fast 25 000 Euro zur Verfügung.

"Solch eine Notlage kann in den besten Familien vorkommen", da ist sich Günter Bornfleth sicher. "Jeder kann Opfer werden, und jedes Opfer liegt uns am Herzen", betont der 52-Jährige.

Agnes Sandmann und ihr Sohn Markus gehören auch zu diesen Opfern. Als die heute 48-Jährige vor 16 Jahren Markus zu sich nahm, behielt das Jugendamt die Vormundschaft des körperlich behinderten Kindes.

"Was dann vor zwei Jahren geschah, war kaum zu ertragen", erinnert sie sich. "Markus wurde auf einer Klassenfahrt von seinen Mitschülern gequält." Sie zwangen ihn sich auszuziehen, zu sexuellen Praktiken. "Und sie haben alles mit dem Handy gefilmt", erinnert sich Agnes Sandmann. "Es war schrecklich, Markus war völlig verängstigt, wollte nicht mehr zur Schule gehen." Beim Jugendamt bekam sie keine Hilfe. Im Gegenteil, die Behörde lehnte einen Schulwechsel ab.

Also gab sie bei Google den Suchbegriff "Missbrauch" ein und landete auf der Internetseite des Weißen Rings. Sie wählte die Nummer von Günter Bornfleth. Im Herbst 2008 zog der Verein mit Agnes Sandmann vor Gericht, trug die Kosten und erstritt die Vormundschaft für Markus. Damit lag ein Schulwechsel im Ermessen der 48-Jährigen.

In ganz besonderen Notsituationen gewährt Günter Bornfleth Opfern sogar in seiner eigenen Familie Unterschlupf, wie zum Beispiel Dilara J. Die Deutsch-Libanesin war mit einem jungen Mann marokkanischer Herkunft verheiratet. "Er war drogenabhängig, mit der Mafia verbandelt, hat mich fast täglich geschlagen, zum Sex gezwungen", erinnert sich die 38-Jährige. Über einen Bekannten wurde Günter Bornfleth auf die Familie aufmerksam. Ihm vertraute sich die verängstigte Frau an. Der Weiße Ring konnte für sie und ihre fünf Kinder ein Haus im Landkreis mieten, bezahlte ihren Rechtsanwalt. Das war 2003. "Ohne den Verein hätte ich die Trennung nicht überlebt", sagt sie. Noch heute fällt es ihr schwer, über all das zu sprechen.

"Uns geht es darum, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, Menschen wieder auf die Beine zu helfen", betont Günter Bornfleth. Geld bekommt keiner der ehrenamtlichen Mitarbeiter des Weißen Rings, sie sind Polizisten, Rechtsanwälte, Richter, Psychologen, aber auch Post- oder Zollbeamte. "Wichtig ist, dass die Freiwilligen psychisch stabil sind und Mitgefühl entwickeln können."

"Für mich ist der Weiße Ring fast zu spät gekommen", erinnert sich Katja Schneider. Ein Schatten huscht über ihr Gesicht. "Mein Vater hat mich als Kind missbraucht." Mit 15 sei sie von zu Hause ausgezogen, habe ein neues Leben begonnen, das alte ganz weit weg geschoben. "Aber es hat mich wieder eingeholt." Zehn Jahre später. Katja Schneider hatte gerade ihr erstes Kind bekommen, war glücklich verheiratet. "Mein Vater hatte meine Mutter verlassen und eine zweite Familie gegründet. Diese Kinder hat er auch missbraucht." Dieses Mal wurde er angezeigt. Auch Katja sollte aussagen. "Damit kam all das in mir hoch, was ich die ganzen Jahre unterdrückt hatte." Es kam zum Prozess. "Mein Vater bedrohte mich, ich solle meine Anzeige zurückziehen, nicht aussagen. Irgendwann bin ich zusammengeklappt." Ihre Ehe zerbrach, die Kinder kamen zu ihrem Mann. "Es ging gar nichts mehr, ich hatte meinen kompletten Lebenswillen verloren." Ein Nachbar riet ihr, beim Weißen Ring Hilfe zu suchen. Hier erfuhr sie Beistand - bei Behördengängen, bei der Suche nach einem Therapieplatz. Durch die finanzielle Unterstützung konnte sie ein kleines Auto kaufen und ihre Kinder besuchen. "Das war das Wichtigste für mich", erzählt sie. Mittlerweile kann sie wieder arbeiten - einige Stunden am Tag. Was sie sich wünscht? "Mein Leben zurück." Ein Leben ohne Angst und Schmerz.

* Namen von der Redaktion geändert