Die ganze Welt ist voller kluger Sprüche. Kluge Leute haben sie sich ausgedacht, damit kluge und auch weniger kluge Leute sie zitieren können, wenn die Gelegenheit danach schreit, kluge Sprüche auf Lager zu haben.

Wir schmücken unsere Reden gerne damit und geben ein wenig weiter von dem Glanz der klugen Gedanken, die andere geäußert haben. Das ist legitim, denn das Rad muss nicht immer wieder neu erfunden werden. Kein Mensch kommt gleich zu wirklich tiefschürfenden Erkenntnissen.

Da hörte ich zum Beispiel neulich jemanden zu Beginn seiner Rede einen Satz von Seneca zitieren, dem berühmten römischen Philosophen, Staatsmann und Erzieher Kaiser Neros: Wenn ein Seemann nicht weiß, welches Ufer er ansteuern soll, dann ist kein Wind der richtige. Welch ein Spruch! Welch eine Aussage! Dumm daran war nur, dass ich nun gar nicht mehr weiter verfolgt hatte, was der Redner sagte, sondern dauernd darüber nachdenken musste, was Seneca wohl genau damit gemeint hat.

Meine Gedanken gingen hin und her, schienen geradezu Purzelbäume zu schlagen und konnten sich gar nicht mehr richtig darauf konzentrieren, was der Redner sagte. Zumindest waren sie immer dabei zu ergründen, in welcher Beziehung denn nun der Inhalt der Rede zu diesem Spruch von Seneca stehen könnte. War die Rede deshalb eine schlechte Rede, weil sie mich auf diese Art in ihren Bann zog und nicht durch den Redner selbst?

Jedenfalls habe ich mir fest vorgenommen: Sollte ich jemals eine Rede halten, wird es keinen klugen Spruch zu Anfang geben -höchstens am Ende, wenn alle schon wissen sollten, was damit gemeint sein könnte!