Ein Stück Kindheit nachholen: Frauen üben, wie sie richtig in die Pedale treten.

Wilhelmsburg. "Ihr müsst ruhig atmen", sagt Christian Burmeister (48), "und die Geschwindigkeit entsprechend gestalten. Ihr dürft nicht die ganze Zeit an die Hütchen denken!"

Sechs Damen aus Wilhelmsburg und Harburg lauschen in der Turnhalle der Schule Rotenhäuser Damm 45 den Worten ihres Trainers. Der hat gelbe Plastikhütchen auf dem Boden platziert. Die sollen die Frauen jetzt umkurven - mit dem Fahrrad. Denn die Vier sind schon seit Jahren oder Jahrzehnten nicht mehr Rad gefahren und wollen nun mehr Sicherheit auf den Zweirädern gewinnen. Zwei der Teilnehmerinnen sind in ihrem ganzen Leben noch nie Fahrrad gefahren und lernen jetzt das erste Mal, mit eigener Muskelkraft auf zwei Rädern zu fahren.

Makbule Süzgün (52) aus Wilhelmsburg sagt, sie sei eine "gute Fahrerin, aber nur mit dem Auto". An diesem Tag sitzt Süzgün das achte Mal in ihrem Leben auf einem schwarzen Klappfahrrad. Wenn sie los fährt, dann wackelt das Rad noch ein wenig hin und her, und manche Hütchen lässt sie noch links liegen. Aber sonst sieht man der Frau nicht an, dass sie vor drei Wochen das erste Mal auf zwei Rädern gerollt ist.

"Mein Mann möchte uns zwei Klappräder kaufen, damit wir an der Elbe radeln können", sagt die Türkin. "Ich habe viele Jahre nach einer Radfahrschule für Erwachsene gesucht, weil ich als Kind kein Radfahren gelernt habe. Wenn das Wetter besser wird, werden wir an der frischen Luft radeln."

Im Januar hat in Wilhelmsburg die FIT-Radfahrschule für Erwachsene geöffnet (Telefon: 040/219 03 67-77). "Wir bieten Erwachsenen die Möglichkeit, behutsam und sicher Radfahren zu lernen", sagt die Koordinatorin Martina Sarkowski (51). Der Sportwissenschaftler Christian Burmeister hat drei Langzeitarbeitslose fit gemacht - sie bringen den Erwachsenden die Kniffe bei, damit sie Schritt für Schritt Vertrauen in das Zweirad bekommen: Auf- und Absteigen, Gleichgewicht halten, Lenken, Anhalten, langsam und schneller fahren, Hütchen umkreisen und schließlich sogar mal mit einer Hand lenken - nach zehn Doppelstunden (Einführungspreis: nur 20 Euro) steht eine erste Ausfahrt in die Umgebung auf dem Programm.

Davon kann die Harburgerin Dahbia Abbas (49) vorerst nur träumen. Sie gehört auch zu den absoluten Neuanfängerinnen, ist in ihrer Heimat Algerien als Kind nie auf ein Fahrrad gestiegen. "Ich habe noch immer Angst, in die Pedale zu treten", sagt Abbas. So rollt sie vorsichtig, mit den Füßen auf den Boden, durch die Halle. Abbas will noch einen zweiten Kursus in der FIT-Radfahrschule belegen. Die meisten Anfänger lernen das Radfahren in vier Schritten: Erst rollern sie auf einem Roller, dann benutzen sie ein Klapprad als Roller. Erst danach fahren sie mit den Füßen auf dem Boden durch die Turnhalle, um dann im vierten Schritt richtig mit den Pedalen zu treten.

Radfahrcoach Christian Burmeister will die Erwachsenen spielerisch zum Radfahren bringen. "Wir versuchen, nicht Radfahren zu lehren, sondern mit den Teilnehmern ein Stück Kindheit nachzuholen", sagt der Sportwissenschaftler. "Als Kinder lernen wir, uns die Welt auch per Fahrrad alleine zu erschließen. Diese Natürlichkeit folgt gewissen Strategien: Die Erwachsenen müssen hier nur entfalten, was sowieso bereits in ihnen steckt."