Das vergangene Jahr hat uns ein paar herausragende Erzählbände beschert.

Eva Menasse bewies in "Lässliche Todsünden" noch einmal ihre gesamte Subtilität als Erzählerin und schrieb mit ihrer feingeistiger Feder Sätze, für die man sie einfach verehren muss. Mit Lutz Seiler und seinem Roman "Zeitwaage" (ebenfalls 2009) wäre da nun noch so ein Erzählphänomen. Kritiker überschlagen sich und sprechen vom "Ereignis Literatur", das man so lange vermisst zu haben glaubte. Und das ist richtig: Seiler nähert sich in seinen Erzählungen Schwellenzuständen, Übergängen, Momenten, in denen die Existenz nicht ganz sicher ist. Noch nie hat jemand so fein das seltsame, vertraute, doch allmählich ins Fremde übergehende Gefühl bei einer Trennung beschrieben, wie Seiler, und für das Schwanken des Lebensbodens so treffende, atmosphärisch-dichte, teils skurrile, dabei jedoch zugleich komplett unprätentiöse Sätze und Bilder gefunden.

Seilers Sprache entwickelt bildhafte Kraft: Das Kind des getrennten Paares, das auf der Amerikareise allmählich bei einer Aufführung in einer Seifenblase verschwindet und in dem Vater ein seltsames Gefühl höchster Gereiztheit auslöst. Ohne es direkt zu benennen, trifft Seiler den Erzählnerv und löst viele kleine poetische Beben aus. Oder man denke an seine mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnete Erzählung "Turksib", die sich ebenfalls in dem Band befindet und von einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn erzählt. Der Erzähler reist begleitet von einem tickenden Geigerzähler, da kommt es im Zug zur Begegnung mit dem "Heizer", der Heine zitiert und zur Figur der Fremdheit stilisiert wird. Poetisch, geheimnisvoll, animalisch, auch sonderbar und lange im Gedächtnis haftend: Große Literatur, große Erzählkunst.