Im eigenwilligen Museum in Hammerbrook steht Dr. Tod neben Szenen auf der Turnmatte.

Hammerbrook. Dieser Mann hat einen Sinn fürs Abseitige und fleißig ist er noch dazu: Eine Figur jeden Tag, das war ein Jahr lang das Pensum von Martin Nill. Von Montag bis Freitag. Mit einem wohlverdienten Wochenende, darauf legte der Künstler allerdings wert.

Auf einem langen Tapeziertisch in seinem Atelier in Hammerbrook steht ein lustiges Arrangement an Skurrilitäten: Bei den kleinen Figuren aus Polymerton galt immer: "Keine Angst vor schlechtem Geschmack, Kitsch oder Skurrilitäten. Keine Zensur." Und vor allem: ruhig die Tagesreste, die Assoziationen aus Kino und Fernsehen verwerten. So treffen Godards Motive auf Fantastisches, auf Tiere oder seltsame Sport-Ikonen.

Bunte Figürchen zwischen Mensch und Tier, Mensch und Maschine, witzige Ideen verdichtend wie den Briefkasten, der gerade krank ist, Zahnbelag hat und deswegen nicht arbeitet oder auch ziemlich Explizites aus der Serie "Auf der Turnmatte" sind versammelt. Doch eigentlich kamen die kleinen Einzelfiguren viel später.

Alles fing einmal mit überbordender Schaulust an: Martin Nill stand eines Tages, als er selbst schon Maler war, irgendwie aber gerade in einer Krise steckte, in einem Museum in St. Petersburg vor Dioramen. Jenen beleuchteten Schaukästen, die gerne für Pädagogisches und Lehrreiches herangezogen werden. "In Sankt Petersburg war es etwas über die Antarktis, mit Wetterleuchten und Eisbären", erinnert sich Martin Nill. Und er erinnert sich noch genau an die Faszination, die das sofort auslöste. "Ich fühlte mich angerührt und beteiligt." So war die Idee mit den Guckkästen geboren.

Zunächst startete Nill mit Idyllen - doch das war irgendwie nicht seine Baustelle. Der Hang zum Düsteren und Abseitigen, zum Hässlichen und Aufrüttelnden setzte sich durch. Heute hängen in Nills Atelier in Hammerbrook, das zugleich sein "Museum für Hygieneforschung" mit dem witzig-philosophischen Untertitel "Abfall und Genese" ist, gleich neben dem Eingang die Dioramen: Kästen mit eingebautem Fenster und Beleuchtung, hinter denen sich wahre Geschichten abspielen.

Martin und ich erkunden den vorderen Teil seines Ateliers, in dem dank schwarzer Vorhänge ein diffuses Schummerlicht herrscht. Nur die Welten in den Dioramen leuchten aus den eingebauten Sehschlitzen der Kästen. Martin, im schwarzen Kapuzenpullover und Jeans, erzählt. Zum Beispiel von der Serie "Dr. Tod kommt und rettet Dich". In den matt leuchtenden Schaukästen dieser Serie stecken Szenen, letzte Momente voll Agonie: "Ich wollte Arten des Sterbens zeigen, endgültig aus dem Pädagogischen der Dioramen raus."

Hinter einem Schaukasten schimmert etwa eine alte Brücke, die des nachts durch eine verlassene Schrebergartenanlage führt, ein düsteres Szenario - auf der Brücke entledigt sich ein Mann eines blauen Müllsacks mit schwerem Inhalt, den er in das Wasser wirft. In einem anderen Kasten stoßen die Augen auf ein scheinbares Vergewaltigungsopfer, das blutend mit verdrehten Beinen im Wald liegt. Wir erkunden weiter das Museum. Allmählich fällt mir auf, dass Martin eine präzise Literaturkenntnis haben muss. Ich forsche nach. Und richtig: Da war mal ein Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und der Kunstgeschichte in Saarbrücken, bevor Martin in Hamburg Kunst, genauer Illustration studierte.

"Literatur ist definitiv eine Inspirationsquelle", sagt Martin. Ein Schaukasten zeigt Robert Walser am 25. Dezember, seinem Geburts- und zugleich auch Todestag, hingestreckt im Schnee. Der Dichter, der in einem Sanatorium für Geisteskranke lebte, kehrte an seinem Geburtstag nicht von einem Spaziergang wieder. Nill hat diesen Moment voll Grauen und Poetik eingefangen. Andere der Mikrokosmen hinter Glas tragen Titel wie "Bei der Recherche zu seinem Roman 'Anna Karenina' stößt Lew Tolstoj eine Unbekannte vor einen fahrenden Zug, um das Geräusch ihres Ablebens zu studieren." Unter einem anderen Kasten ein gediegenes graviertes Messingschild: "Jean Paul und Jassir Arafat trinken ein Bier in der Rollwenzelei bei Bayreuth."

Für Nill, der mit einem Wohnzimmermuseum startete, das ihm irgendwann verständlicherweise über den Kopf wuchs, bieten die Dioramen die ideale Möglichkeit, "das Böse zu bannen, indem man es anguckt." Deswegen auch der Titel "Museum für Hygieneforschung". Ein bisschen im Sinne von "Psychohygiene", also als Entrümpeln der abseitigen Seiten unserer Seele durch direkte Benennung - eine Gegenstrategie.

An Düsterem hat der Künstler aus Ostfriesland allerdings noch mehr auf Lager. In seiner Kindheit beschäftigten ihn morbide Kriminalfälle wie der von Fritz Honka, dem Frauenmörder von St. Pauli, der den Leichengeruch in seiner Wohnung mit WC-Steinen kaschierte. Oder der Hammermörder: Ihn hat Martin Nill in einem Diorama dargestellt, wie er mit einem Hammer in der Hand mitten durch eine spießige Siedlung wandert, die Nachbarn hinter den gerüschten Gardinen glotzen, ohne dass jemand eingreift. Alle Details sind perfekt vom Künstler bis ins Kleinste modelliert.

Für Nill bieten sich die Dioramen an, um Dinge ironisch zu benennen und auch mit einer gewissen Scheinheiligkeit zu brechen. "In den kleinen Welten steckt ja auch dieses Spießige - nach dem Motto: Ich erklär' dir die Welt aus Spielzeug."

Dass das nicht geht, lehrt uns der scharfe und düster-heitere Blick des Martin Nill, der mittlerweile aus den Kästen "ausgebrochen" ist und über 200 Kleinfiguren erschaffen hat. 2010 soll wieder der Produktionsrhythmus "eine am Tag" gelten.

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