Irgendwann musste Sebastian Schupfner wirklich springen. Musste die Arbeit als Kinderarzt, die Routine im Krankenhaus hinter sich lassen.

Buchholz. "Es war wie eine persönliche Befreiung", Schupfner grinst, die blauen Augen blitzen. Vielsagend. Er lernte, wie man Bilder auf den Punkt bringt, schnell ist, und machte sich binnen kurzer Zeit einen Namen als Sportfotograf: dicht an den HSV-Handballprofis, mit Riesenobjektiv am Spielrand, gedruckt in den größten Zeitungen. An der Wand in seinem Büro hängen atemberaubende Bilder von Polospielen. Präzise Bewegungsstudien. Perfekt.

Irgendwann vergangenes Jahr im Winter ist Schupfner dann noch einmal gesprungen: Er zog von Hamburg aufs Land. Bezog mit seiner Freundin ein Haus südlich von Buchholz. "Es war irgendwie auch wie eine persönliche Vorahnung der Wirtschaftskrise", sagt Schupfner. Rückzug aufs Land. Doch hier beflügelte ihn die Natur für seine Arbeit. Gewaltig in einem positiven Sinne kam sie ihm vor. Unmittelbar und beeindruckend. Aber auch hart, den Instinkten ganz nah. Und der Gedanke "märchenhaft, irgendwie wie im Märchen", schob sich immer öfter durch seinen Kopf. An die Naturelemente musste er denken, die in den alten Überlieferungen der Grimm-Märchen eine große Rolle spielen. Konnten die 200 Jahre alten Märchen einem in der Gegenwart noch etwas sagen?

Heute schreiten wir durch die Galerie "Kulturreich" in der Hamburger Wexstraße. An den weißen Wänden in den großzügigen Räumen hängen Schupfners "Märchenmomente", 140 mal 90 Zentimeter groß auf Aludibond. Denn aus dem vagen Gefühl in der Nordheide machte der Fotograf ein künstlerisches Projekt: Goldmariechen, der Fischer ohne seine böse Fru, ein modernes Rotkäppchen, Dornröschen im Zauberschlaf, die Großmutter des Teufels und ein sehr junges tapferes Schneiderlein blicken von den Wänden. Das Besondere: Schupfner hat aus den Märchen das zeitlose Moment extrahiert. Mit sehr klarer, vielleicht ein bisschen retro-inspirierter Ästhetik erinnern uns die auf mattes Fotopapier gebannten Momente, dass im Märchen ein zeitenthobener, überindividueller, vielleicht sogar existentieller Kern geborgen liegt.

Alle Motive entstanden südlich der Elbe und im Landkreis Harburg, Schupfners neuer und alter Heimat. Einmal führte der Künstler sogar ein regelrechtes Wachholdercasting in der Heide durch, um den perfekten Baum für das tapfere Schneiderlein zu finden. Ein Wacholder nahe Handeloh machte das Rennen. An den Entstehungstagen der Bilder war es meist klirrend kalt. Wie zum Beispiel an dem Tag, als Schupfner mit einer kleinen Crew in der Abenddämmerung sein Rotkäppchen mit der Canon 1DS knipste. In einer unwirklichen Gegend an einer Hafenmauer, schwach beleuchtet. Rotkäppchen, die Viva-Moderatorin Nadine Vasta, trägt ein blaues Trainingsjäckchen und lehnt an einem Herrenrad, subtil zeichnet sich ein dunkler Schatten an der Mauer ab. Quasi als unfassbare Bedrohung. "Komm nicht vom Weg ab", war der Satz, der sich zu dem Märchen in Schupfners Kopf formte. Goldmarie inszeniert der Fotograf zum Beispiel beim Flaschensammeln im Wald. Mit brillanter, gestochen scharfer, manchmal ein wenig an inszenierte Modefotografie erinnernder Ästhetik. Und als Beitrag zur Nachhaltigkeit, als Gedankenanstoß, "wie viele gut gekleidete Menschen heute in den Müllbehältern nach Leergut fahnden."

Für Schupfner, der mit 15 Jahren mit seiner ersten Pentax Spiegelreflex nach Motiven suchte, hat sich das Springen gelohnt. Bei seinen Fotoarbeiten kann er mit den Menschen dialogisch arbeiten. Im Krankenhaus dominierte manchmal eher das Gefühl, "in einer Fabrik" zu arbeiten. Und auch das Fingerspitzengefühl, das für einen Kinderarzt unverzichtbar ist, die seismographische Intuition, worauf das Bauchweh hinweisen könnte, kamen Schupfner bei der Darstellung von Menschen zu gute, die man auch in den ersten Sekunden irgendwie verstehen muss.