Viele haben das Zimmer in schwindelnder Höhe am Harburger Rathaus gesichtet. Wir fragen nach: “Was machen Sie da, Herr Nishi?“

Harburg. Ein bisschen stand mir der Arbeitsbesuch bei Tatzu Nishi in zwanzig Meter Höhe ja tatsächlich bevor: fünf Absätze des klapprigen eisernen Gerüstes höher, ist auf einmal alles halb so schlimm. Der japanische Künstler Tatzu Nishi hat hier oben rund um die Uhr des Harburger Rathauses ein Zimmer mit spektakulärem Blick über die Stadt erbaut. Momentan wird in dem ungefähr 16 Quadratmeter großen Holzverschlag, der von einem massiven Gerüst getragen wird, noch fleißig gehämmert und geschraubt. Tatzu steht in brauner Strickjacke vor den grimmigen Wächterfiguren aus Stein, die die Rathausuhr mit goldenen Zeigern in luftiger Höhe umgeben und ist ein wenig besorgt um seinen Zeitplan: bis zur Vernissage muss noch tapeziert werden, der rote Teppich verlegt werden, Gardinen vor die Fenster - ja und Möbel bei Ikea will er für sein Zimmer auch noch besorgen: Couch, Sessel und weißen Flokatiteppich.

Mittlerweile ist das Schnee von gestern. Rund um die Rathausuhr ist eine Woche später ein richtiges Wohnzimmer mit modernen Möbeln entstanden. "Bewusst nichts Barockes", erzählt Tatzu, denn er wollte die Machtaura, die so ein Rathaus mit sich bringt, mit der Gewöhnlichkeit eines Wohnzimmers konterkarieren. Doch warum macht Tatzu das? Der in Köln lebende und gerade in die Hauptstadt umgezogene Urban Art Künstler ist tätig im Auftrag des Projekts "Harburger Berge", mit dem der Kunstverein Harburger Bahnhof temporäre Kunstprojekte im öffentlichen Raum präsentiert. Tatzu hat bereits mehrere spektakuläre Eingriffe an öffentlichen Monumenten durchgeführt. Am liebsten "kidnappt" und "eignet" sich der Künstler repräsentative Gebäude, Skulpturen und Denkmäler an. Beispielsweise erbaute er schon einmal ein Wohnzimmer um einen Engel herum, der eigentlich Wetterhahn des Baseler Münsters ist und ließ diesen zur Tischdekoration schrumpfen. Oder eine kopfüber in einer Unterführung steckende Straßenlampe mutierte in seinem Dekor plötzlich zum überdimensionierten Kronleuchter. Spiele mit Blickwinkeln und Verschiebungen in unserer gewohnten Stadtwahrnehmung sind sein Spezialgebiet. "Für mich ist die Stadt mit allen ihren prägenden Merkmalen wie Kirchturmspitzen, Straßenlaternen und Denkmälern das größte Kunstwerk", sagt der Künstler. Also versucht er unsere Augen für die Gewahrwerdung des Urbanen zu öffnen. Wir bekommen das Bekannte in seinen witzigen Installationen neu offeriert: zitiert, ironisiert und verblüffend neu gerahmt, indem es in einen anderen Kontext "eingebaut" wird. Das Changieren zwischen öffentlichem und privatem Blick ist es, was Tatzu Nishi in seinen authentisch wirkenden Wohn-Interieurs interessiert und umtreibt.

Höhenangst hat der Installationskünstler natürlich nicht. Wie zur Bestätigung zeigt Tatzu mir grinsend einen Katalog mit einem Kirchendach, auf das er ungesichert zur Besichtigung für eine seiner Kunstaktionen krabbelte. Tatzu Nishis luftige Arbeit für Harburg spielt ebenfalls mit den Relationen von Privatheit und Öffentlichkeit, mit Machtrepräsentation und privater Rückzugskulisse, mit der Verwirrung von Innen und Außen, die er in einen augenzwinkernden Wirbel reißt: In dem Zimmer findet man sich plötzlich auf Augenhöhe mit der 113 Jahre alten Rathausuhr wieder, berührt Spinnenweben am Zeiger, sieht kleine Stäbe zur Vertreibung von Tauben - normalerweise für das Auge am Boden unsichtbar - und nimmt die vermoosten Witterungsspuren aus nächster Nähe wahr. Das dem Auge allein durch seine Höhe sonst Unzugängliche wird durch die Installation plötzlich zugänglich und höchst persönlich, fast intim. Dass der Künstler das Rathaus auswählen würde, stand allerdings nicht sofort fest. Tatzu hatte den Gedanken eigentlich schon verworfen, da er die Aktion für zu teuer hielt. Doch als er dem Kurator des Projekts "Harburger Berge", Tim Voss von seiner Idee erzählte, war dieser begeistert: "Das machen wir." Wie hoch die Kosten für Gerüst und den Höhenbau genau sind, weiß Tatzu nicht. Insgeheim glaubt er, dass sie das Budget schon ein wenig gesprengt haben. Doch alle sind mehr als froh, dass Kultur von internationalem Rang nach Harburg gekommen ist: Noch ein letztes Streicheln über die Zeiger der Uhr, die ich sicher nie wieder berühren werde und die, wie ich erfahre einmal die Woche aufgezogen wird, dann geht es auch schon das Gerüst wieder hinab.

Das Projekt ist eines der insgesamt sechs Projekte der Kunstaktion "Harburger Berge". Öffnungszeiten Mi. bis So. 14 bis 18 Uhr und nach Verabredung mit dem Kunstverein. Die temporäre Ausstellung "Harburger Berge" im öffentlichen Raum läuft noch bis 1. November.