Maria Iwanowna Brizhik (65) war nach 63 Jahren am Ort ihrer frühen Kindheit auf “Gut Haidhöhe“

Emmelndorf. Ein Lächeln huscht über das Gesicht von Maria Iwanowna Brizhik, ihre Augen werden feucht. Sie weint nicht, weil sie nicht alleine ist, aber dieser Moment hier in Emmelndorf ist für die 65-Jährige aus der Ost-Ukraine einfach unbeschreiblich, einfach wunderschön: Da steht sie nach 43 Jahren wieder an dem Ort ihrer frühen Kindheit - auf dem ehemaligen "Gut Haidhöhe", vor dem Wirtschaftsgebäude aus rotem Backstein mit dem schönen Turm mit der schönen Turmuhr.

"Hier habe ich gehen gelernt", sagt die Frau aus der Ost-Ukraine. Und weil der Satz zu schön ist, um wahr zu sein, wiederholt sie ihn noch mal auf Russisch, Vera Vasilyeva (33) aus Hamburg übersetzt: "Irgendwo hier habe ich gehen gelernt."

Sommer 1943 in der Ostukraine im Dorf Ryzhovo, Gebiet Charkov: Deutsche lassen auf Ukrainisch einen Brief schreiben und verteilen ihn an die Dorfbewohner. Im Brief steht, dass alle Menschen der Geburtsjahrgänge 1923, 1924 und 1925 am 7. Mai 1943 mit dem Zug nach Deutschland müssen. Zur Arbeit - genauer gesagt: Zwangsarbeit. Denn welcher junge Ukrainer will schon freiwillig aus Ryzhovo ins rund 2500 Kilometer entfernte Deutschland umziehen?

So trifft es auch Marias Mutter Polina (Pelageja) Minkina, Jahrgang 1925. Deren Schwester, Jahrgang 1922, und deren Bruder, Jahrgang 1929, dürfen in ihrer Heimat bleiben - Schicksale im Zweiten Weltkrieg. Mit dem Zug kommt Polina in den Kreis Harburg. Während der Zugfahrt hat sie Ivan Woschtschenko, Jahrgang 1912, kennengelernt. Wo Ivan und Polina ihren deutschen Vorgesetzten, den Pferdezüchter und Verwalter von "Gut Haidhöhe", Walter Heitmann, und dessen Frau das erste Mal sehen, ist unklar. Klar scheint, dass der Gutsverwalter ein Ehepaar für das Gut in Emmelndorf sucht. Also sagt Ivan etwa: "Hier, wir sind ein Ehepaar - Polina ist meine Ehefrau!"

So kommen Ivan Woschtschenko und Polina "Woschtschenko" am 1. Juni 1943 als Zwangsarbeiter auf "Gut Haidhöhe" in Emmelndorf Nr. 24 - seit 1957 residiert hier der Hamburger Land- und Golf-Club Hittfeld.

Am 20. Juni 1944 kommt Maria Iwanowna mit dem Nachnamen Woschtschenko in Fleestedt zur Welt. Eine Hebamme aus Fleestedt kümmert sich in einem Geburtshaus um sie. Gestern Vormittag hat Maria das ehemalige Geburtshaus besucht. Ihr kamen die Tränen, und sie musste Baldrian nehmen. Aber in Emmelndorf, dort wo sie ihre ersten beiden Lebensjahre verbracht hat, ging es ihr schon wieder besser. Der Sottorfer Klaus Möller (74), Vorstand im Freundeskreis KZ-Gedenkstätte Neuengamme, hat ihr erklärt, dass sie "großes Glück" hatte. "Oft mussten osteuropäische Zwangsarbeiterinnen ihre Säuglinge nach der Geburt abgeben und einer 'Ausländerkinder-Pflegestätte' überlassen", weiß der Historiker. "In diesen Unterkünften starben in den Jahren 1944 und 1945 im Bereich des heutigen Niedersachsens zwischen 30 und 90 Prozent der osteuropäischen Säuglinge und Kleinkinder."

Maria Iwanowna Brizhik geht in den Pferdestall des Wirtschaftsgebäudes: "Ja, von diesen weißen Kacheln an den Wänden hat meine Mutter immer erzählt", sagt die Ukrainerin. "Meiner Mutter hat immer gut von 'Gut Haidhöhe' gesprochen. Niemand hat sie beleidigt, die Leute sind sehr gut mit ihr umgegangen. Die Frau des Gutsverwalters hat ihr Kleidung geschenkt, Medikamente. Und eine Kindermatratze und einen Kinderwagen. Den hat meine Mutter 1946 mit in die Heimat genommen."

Nach zwei Stunden auf "Gut Haidhöhe" fährt Maria Iwanowna Brizhik mit Klaus Möller zum Sohn des ehemaligen Gutsverwalters. Am Grab möchte sie für Walter Heitmann beten und ihm ihre Dankbarkeit zeigen.

Maria Iwanowna Brizhik schaut selbst auf ein erfülltes Leben zurück: Sie hat drei Söhne, drei Enkeltöchter und einen Enkelsohn. Ihr Mann Witalij Brizhik ist 2002 gestorben, beide waren 42 Jahre verheiratet. "Ich habe immer von einem Besuch in Deutschland geträumt", sagt Maria Iwanowna Brizhik, "hier auf 'Gut Haidhöhe' ist mein Traum in Erfüllung gegangen."