Die Motive für seine Camera Obscura sucht der Kunststudent am liebsten auf der Elbinsel.

Wilhelmsburg. Es sieht schon seltsam aus: Ein junger Mann befindet sich auf Wanderschaft mit sieben Keksdosen im Gepäck. Jenen runden Dosen aus Blech, in denen gewöhnlich Kekse stecken. Ist der Mann eine extreme Naschkatze? Überhaupt nicht. Rupert Kraft ist mit dem Fahrrad und zu Fuß durch Wilhelmsburg unterwegs und zugleich einer von acht Obscuristen. Was das ist? Die Obscuristen sind eine Künstlergruppe und haben sich der Arbeit mit der Camera Obscura, also der Lochkamera verschrieben, in der das Bild verkehrt herum entsteht. Sie sind begeistert davon, zu den Anfängen der Fotographie zurückzukehren, die bis zu Leonardo da Vinci reichen.

Doch natürlich kann man mit einer Keksdose nicht einfach losknipsen. "Erst müssen alle Fettreste und Krümel weg, das machen wir mit Spiritus", sagt Rupert Kraft, der im Aufbaustudium Film an der Hochschule für bildende Künste (HfbK) eingeschrieben ist. Dann wird die Dose innen mit mattem Schwarzlack gestrichen. Anschließend bohrt der Obscurist ein kleines Loch in den Deckel. "Das machen wir mit Uhrmacherwerkzeug oder Stecknadeln. 0,9 Millimeter sind die Standardblende." Je nach Größe des Loches entsteht viel oder wenig schwarzer Rand rund um das Motiv.

Ist die Keksdose so weit zweckentfremdet, legt der Obscurist bei völliger Dunkelheit (in der Dunkelkammer oder im Wechselsack) lichtempfindliches Fotopapier ein. Ganz wichtig: Das Loch vorne und die Seitenränder der Dose abkleben, damit kein einziger Lichtstrahl an das Papier dringt.

Rupert Kraft betont, dass er "kein Feind des Digitalen" sei. Der 28-Jährige sitzt in einem Kellerraum der Medienschule Finkenau, wo die Hfbk Seminarräume besitzt. Rupert wollte die Bilder aus der Camera Obscura, die seltsam verzerrt wirken, noch weiter auf die Spitze treiben und begann, das Fotopapier zu bearbeiten. "Ich wollte das Fotopapier plastisch machen, also deformierte ich es." Der Fotokünstler legte geknülltes und zerrissenes Papier wie ein kleines Gebirge in die Keksdose. Resultat: Seine Bilder wirken noch geheimnisvoller und verzerrter. "Um zu wissen, welches Papier in einer Dose steckte, schrieb ich auf die Dosen "glatt", "medium" oder "heavy", je nach Knüllintensität des Papiers", sagt er. Rupert Kraft ist die Elbinsel Wilhelmsburg schließlich nach Motiven abgewandert. "Wilhelmsburg passt besonders gut zu den verletzlich und stimmungsvoll wirkenden Bildern der Camera Obscura, da dieser Ort im Wandel, im Aufbruch ist." Rupert gefällt es, einen Ort durch die deformierten Bilder mit neuen Augen zu sehen und wahrzunehmen. Er spazierte durch das Reiherstiegviertel, die Insel-Mitte und das Naturschutzgebiet bis zur Bunthäuser Spitze. Überall entdeckte er Motive: Ein Andreaskreuz, eine Schranke, die kleine Sandtonne am Sportplatz in der Inselmitte, die im Bild auf einmal riesig groß, fast wie ein Haus wirkt. "Bei der Keksdosenfotographie merkt man erst, wie wertvoll ein verschossenes Bild ist, wenn man nämlich nur sieben Keksdosen als Nachschub im Gepäck hat."

Hat der Obscurist sein exklusives Motiv gefunden, stellt er die Keksdose auf ein Stativ, was - zugegeben - recht komisch aussieht und die Aufmerksamkeit der Umgebung weckt, und belichtet so lange, wie gewünscht. Scharfeinstellung ist nicht nötig.Die hohe Kunst der Camera Obscura zeigt sich im richtigen Platzieren der Dose und in der geschickten Auswahl des Motivs.

Mit der Camera Obscura entsteht eine ganze eigene, fragile Ästhetik, die ein bisschen an die Schwarz-Weiß-Filme des Film Noir erinnert und die in ihrer Deformiertheit etwas von der Vergänglichkeit der Dinge im Bild erfasst. Dinge, die dabei plötzlich emotional und stimmungsvoll wirken.

Krafts Keksdosen-Ansichten von Wilhelmsburg waren im April bei der Ausstellung in der Tonne am Veringkanal zu bestaunen. Dort hatte der Künstler seine Bilder erstmals auch als größere Formate gezeigt. Auf weitere Foto-Exkursionen der Obscuristen müssen wir gespannt sein. Motive gibt es in Hamburgs Süden ja genug.