Meckelfeld: Der Bundestagsvizepräsident erzählte von dem, was er 1989 und davor erlebt hat, und warum er Politiker geworden ist.

Meckelfeld. Wolfgang Thierse (SPD) erinnert sich noch genau an seine Schulzeit in der DDR. 1961, als er noch in die zwölfte Klasse ging. Das Aufsatzthema lautete: Würden Sie auf einen Deutschen schießen? "Der politisch-ideologische Druck war unerträglich", sagte der heute 65-Jährige, "so absurd, so gespenstisch war dieses Land."

Gestern besuchte Thierse wieder die Schule, traf auf Zwölftklässler von heute. Im Forum des Gymnasiums Meckelfeld diskutierte der Bundestagsvizepräsident mit 250 Schülern der Jahrgänge zwölf und neun. Die Jungen und Mädchen kennen die DDR nur noch aus dem Geschichtsunterricht. Der Zeitzeuge des Mauerfalls gab ihnen eine außergewöhnliche Geschichtsstunde.

Die Menschen in der DDR, so Thierse, hätten mit dem "Endgefühl eines hoffnungslosen Eingesperrtseins" gelebt. Aber nicht nur ein Zwangsapparat habe den Staat aufrechterhalten. Thierse erinnert die eigentlich gute Grundidee des Marxismus: Gerechtigkeit verwirklichen zu wollen. "Aber Gerechtigkeit unter Preisgabe der Freiheit, das geht nicht." Das, so Thierse, sei die Lebenslehre aus 40 Jahren DDR.

Thierse erzählt von dem "wunderbaren Herbst 1989", als die Mauer fiel. "So viel Revolution hat es in der deutschen Geschichte nie gegeben", sagt er seinen jungen Zuhörern. "Ich wusste, dass ich mit auf die Straße gehen musste, denn sonst würde ich mich ein Leben lang schämen." Selbstironisch nennt sich der Bundestagsvizepräsident einen Stubengelehrten, der von der Revolution in die Politik gespült wurde.

Warum er denn Politiker geworden sei, wenn er doch von der Politik in der DDR so enttäuscht worden war, möchte eine Schülerin wissen. "Politische Leidenschaft entsteht, wenn jemand mit etwas nicht einverstanden ist", erklärt Thierse seine persönliche Motivation. Für eine Generation, die nur ein Leben in Freiheit kennt, ist das Theorie. Ein Gymnasiast hakt nach: Warum, will er wissen, sollten sich Jugendliche noch politisch engagieren, wenn es keine Unterdrückung gäbe. Staatsmann Thierse fallen genug Gründe für die Jugend von heute ein: "Leidenschaft für Gerechtigkeit" zum Beispiel oder den Schutz der Umwelt.

Die Gymnasiasten fragen nicht nach dem Leben in der DDR. Das Zusammenleben der West- und Ostdeutschen hier und jetzt interessiert sie. Der spannendste Dialog des Tages entbrennt: "Warum wünschen sich immer mehr Ostdeutsche die DDR zurück?", will ein Schüler wissen. Thierse antwortet, eigentlich unhöflich, mit einer Gegenfrage: "Sind es so viele?" "Ja", beharrt der Junge. Thierse weiß, dass Umfragen zufolge jeder fünfte Ostdeutsche nicht zufrieden sei. Das bedeute aber auch: "80 Prozent sagen also, es sei heute alles in allem besser!" Ostalgie sei nachvollziehbar: "Wer von den Ostdeutschen verlangt", betont Thierse, "alles an ihrem alten Leben in der DDR schlecht zu finden, verlangt Unmenschliches."