Judith und Leonie, die grundverschiedenen, doch perfekt hysterischen Protagonistinnen in Anna Katharina Hahns “Kürzere Tage“, haben viel dafür gezahlt, um im feinen Teil der Stuttgarter Constantinstraße wohnen zu dürfen.

Die Altbauwohnungen haben hier Stuck in Form von Obstsorten, und den Espresso trinkt man beim Edeltürken Nâzim. Doch die ersten Risse im bürgerlichen Idyll offenbaren sich dem bloßen Auge. Der Rest wird mit Tavor, einem Nervenmittel, vernebelt.

Judith wacht darüber, dass ihre Vergangenheit unter Verschluss bleibt. Sie hat den "Hackstraßenmist" - ein Synonym für ihre studentisch-destruktive Drogen-Phase, eine unfertige Magisterarbeit über Otto Dix und eine masochistische Affäre mit Medizinstudent Sören gegen faden Sex im Ehebett und eine Welt mit Rudolf Steiners Jahreszeitentisch für die Kinder getauscht. Hinter ihrer anthroposophischen Gelassenheit blitzt immer wieder die Erinnerung auf.

Leonie, eine in den 80er-Jahren noch flotte Tennis-Popper-Braut, hat den ehrgeizigen Simon geheiratet, der beim Streit seine schlichte Herkunft nur schwer verbergen kann. Und dann sind da noch die lieben Kleinen: Das gedankliche Zentrum im bourgeoisen Stuttgarter Espresso-bei-Nâzim-Kiez.

Ob Eurythmie, Globuli und bioaktive Kost, ob Kita, Karriere und Discounter: Judith, die akademisch gebildete Vollzeitmama, und Leonie, die Karrierefrau mit den roten Lippen, sind beide unzufrieden. Und dann gibt es noch den ärmeren Teil der Constantinstraße.

Marco, das Kind armer Leute genügt, um alles bröckeln zu lassen. Ein Roman mit bittersüßer Sogwirkung, der in die Hölle der Besserverdienenden führt. Anna Katharina Hahn, Kürzere Tage, Suhrkamp, 223 S., 19,90 Euro.