Über gebrauchte Gegenstände versucht die Künstlerin eine Annäherung an Personen - etwa an ihren Nachbarn.

Wilhelmsburg. Eines Tages war der Briefkasten voll. Genau genommen quoll er über. Marina hatte keine Ahnung, was mit ihrem Nachbarn Sunny los war und wo er steckte. Doch eines Tages blieb sie am Briefkasten stehen und zog den Kram heraus: Rechnungen, Inkassoschreiben, Privates. Sie würde die Briefe aufheben, vielleicht für Sunny, vielleicht für jemanden, der nach ihm fragte. So begann der Fall "Sunny O."

Eines Tages hatte ihr Nachbar Sunny seine Wohnungstür in Wilhelmsburg zugezogen und war niemals zurückgekehrt. War ihm etwas passiert? Alle seine Sachen blieben verlassen in der Wohnung zurück. Und irgendwann war Marina (33), der Nachbarin und Wilhelmsburger Künstlerin klar, dass sie daraus unbedingt eine Kunstaktion machen musste.

Für Marina ist es wichtig, die Kunst im Alltag zu entdecken. Mit Perücke und Kostümierung ging die junge Frau inkognito zu der Auktion, auf der der Hausstand von Sunny O. unter den Hammer kam - und ersteigerte alles, bis auf Kühlschrank und Bett. Danach ging ein Vermessen und Wiegen los: in Listen verzeichnete, wog und maß Marina den recht unpersönlichen Hausstand von Sunny, um sich an die Person und ihr rätselhaftes Verschwinden anzunähern. "Was bleibt von jemandem übrig, der spurlos verschwunden ist?" Dabei war der Künstlerin immer klar: Was wenig wiegt, kann für jemanden großes Gewicht besitzen. "Das Persönlichste von Sunnys Besitz waren allerdings zwei Pornokassetten."

Das Vermessen dauerte Wochen und das Berühren der staubigen, zum Teil schmutzigen Gegenstände eines Unbekannten, war psychologisch so anstrengend, dass Marina immer wieder erschöpft aufhören musste.

Marina ging noch weiter. Sie schlüpfte in die ungewaschenen Klamotten des Mannes und schritt den Weg ab, den er vielleicht zuletzt gegangen war, ließ die Videokamera laufen. "War Sunny etwas zugestoßen - oder war er einfach in ein neues Leben aufgebrochen?" Bis heute ist das ein Rätsel. Die Besucher der Ausstellung "Zwischenwelten" in der Alten Pathologie in Eilbek, wo die Arbeit "Sunny O" mitsamt der Listen und dem gedrehten Film als Installation im September 2008 gezeigt wurde, waren gespalten. Einer beneidete Sunny sogar: "der habe es richtig gemacht, habe alles stehen und liegen gelassen und sei in ein anderes Leben aufgebrochen."

Marina, die in Russland geboren wurde und vor zehn Jahren nach Deutschland kam, lebt heute mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter im Reiherstiegviertel in Wilhelmsburg. In einem Reihenhaus. Ganz idyllisch, mit kleinem Garten und Sandkiste für die drei Jahre alte Tochter. Doch in ihren Arbeiten geht die Künstlerin, die an der Hochschule für bildende Künste (HfbK) freie Kunst studiert und mit einem Stipendium gefördert wird, stets an die Grenzen. Sie arbeitet mit Nachlässen und verlorenen Gegenständen, geht zu Versteigerungen, verarbeitet alte Fotoalben. Auf Flohmärkten sucht sie ihre Materialien weniger, denn sie lehnt den Handel mit Erinnerungsware ab.

Mit dem gebrauchten Material beginnt dann die Annäherung an eine fremde Person. Marina Lindemann schlüpft in fremde Identitäten und drängt ihr eigenes Ich in der Kunstaktion soweit wie möglich zurück. Nehmen wir zum Beispiel die Handtasche, die Marina eines Tages ersteigerte: Als sie sie öffnete, entdeckte die Künstlerin jede Menge Schminke darin: Mascara und Puder, Rouge, Lippenstift und Kajal - alles benutzt. Keine Ahnung von wem. Den meisten würde ein Schauder über den Rücken laufen, doch Marina fand ihre nächste Aktion: Sie schminkte sich zu der Frau, die sie als Taschenbesitzerin vermutete und dokumentierte ihre Verwandlung in Fotographien.

In die Haut eines anderen zu schlüpfen und das zu dokumentieren, ist für Marina eine Passion. In dem Messen und Wiegen drückt sich aber auch etwas von Marinas Vergangenheit aus: Vor ihrem Kunststudium studierte die Künstlerin BWL und arbeitete als Controllerin. Ganz kann eben niemand seine Spuren löschen. Für Marina drückt sich ein Mensch nämlich auch in Zahlen aus: "Das ist der konzeptuelle Anteil meiner Arbeit."

Die aktuelle Arbeit von Marina Lindemann heißt "Spuren der Liebe" und wird auf der Jahresausstellung der HfbK vom 8. bis 12. Juli zu sehen sein. Man darf gespannt sein, was Marina vom Leben zugespielt wurde: So unheimlich wie "Sunny O." wird das Liebes-Projekt aber sicher nicht.