Abendblatt-Mitarbeiterin Rachel Wahba begleitete Peter, Helga und André Novotny nach Bila Zerkwa.

Bila Zerkwa

"Ihr müsst den Menschen in Deutschland erzählen, was ihr hier seht. Erzählt euren Leuten, in welcher Armut unsere Alten, Kinder und Invaliden leben. Die Welt muss das wissen", sagt Kolja Daschkewitsch. Daschkewitschs Familie verlor durch den atomaren GAU vor 23 Jahren in Tschernobyl ihr ganzes Hab und Gut. Sie wurde nach Bila Zerkwa umgesiedelt. Rund 91 000 Menschen mussten damals ihre Heimat verlassen. Entschädigung haben sie nie bekommen.

Der Ukrainer begleitet Helga, Peter und André Novotny von der Scharnebecker Stiftung "Hof Schlüter" auf ihrer Tour durch die Stadt Bila Zerkwa. Die Stadt am Fluss Ros, 80 Kilometer südlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew, liegt in der "vierten Zone". Ein Hauptteil der atomaren Wolke, die bei der Explosion des vierten Blocks im Atomreaktor in der Nacht des 26. April 1986 freigesetzt wurde, ist über Bila Zerkwa herunter gekommen. Noch heute kommen hier Kinder mit Missbildungen zur Welt. Die Wolke hat Land und Menschen verstrahlt. In Bila Zerkwa leistet die Stiftung humanitäre Hilfe, schickt Hilfsgüter aus Deutschland.

Neben dem Rathaus steht eine große Lenin-Statue, ein Relikt aus sowjetischen Zeiten. An diesem Sonnabend wird vor dem Rathaus eine Parade zum Gedenken an den 64. Jahrestag der Befreiung von den Nazis abgehalten. Kriegsveteranen in ordenbehangenen Uniformen, junge Soldaten, die ganze Stadt ist auf den Beinen. In seinem Zimmer sitzt Bürgermeister Wassyl Savschuk. An der Wand hinter ihm hängt ein Bild von Präsident Victor Juschtschenko, der großen Hoffnung der "orangen" Revolution, der Unabhängigkeit der Ukraine und der Annäherung an Europa. Sawtschuk, vor vier Jahren ins Amt gewählt, ist wie viele seiner Landsleute desillusioniert. Sein Etat weist ein Minus von 75 Millionen Griwna (rund 7,5 Millionen Euro) auf.

Er empfängt den Besuch aus Deutschland. "Wir brauchen dringend Insulin, unsere Kinder sterben, weil sie kein vernünftiges Insulin bekommen. Die billigen Medikamente aus Indien werden von den Kindern nicht vertragen", sagt der Bürgermeister einer Stadt, die in Armut versinkt. Gegenüber vom Rathaus empfängt Igor Kusmenko die Novotnys. Er gehört zu den Tschernobyl-Invaliden.

Sie haben sich zusammen getan, um für ihre Rechte zu kämpfen. Als junger Mann sei er damals bei der Miliz gewesen und sei "in der ersten Stunde nach dem Reaktor-Unglück" dorthin geschickt worden. "Sie haben uns weder gesagt, was uns erwartet, noch wie gefährlich das Unternehmen für uns ist", erzählt er auf dem Weg zu dem kleinen Hinterzimmer in dem Gebäude, das er und seine ehemaligen Kollegen für ihre Treffen nutzen. Die damals jungen Männer gehörten zu den "Liquidatoren", die wenige Stunden und Tage nach dem atomaren GAU auf das Gelände des Reaktors geschickt wurden, um aufzuräumen, den Schutt beiseite zu schaffen. Zu ihrem Schutz hatten sie Plastik-Anzüge und Hauben bekommen. Man erzählte ihnen, sie würden für diese Aufräumarbeiten drei Monatslöhne extra bekommen. Das ist inzwischen 23 Jahre her. Jetzt müssen sie um ihre Rechte, die ihnen die Sowjetunion damals schriftlich gab, kämpfen. Diejenigen von ihnen, die nicht gleich nach dem Einsatz in Tschernobyl an den Folgen der atomaren Verseuchung gestorben seien, so Nikolai Ivanow, Präsident der "Invaliden der Tschernobyl Katastrophe", litten heute an Herzkrankheiten, Bluthochdruck, Tumoren und Nierenerkrankungen. In Bila Zerkwa leben, so Ivanow, 1017 Invaliden. Eine Invalidenrente steht ihnen zu. Sie sind offiziell als Tschernobyl-Opfer anerkannt. Die Extra-Rente wird aber nicht gezahlt. Nikolai Ivanow: "Wann immer wir bei den Behörden unsere Rechte einklagen, bekommen wir nur zu hören, die Regierung könne uns leider nicht helfen. Es sei die Sowjetunion gewesen, die uns dort hin geschickt habe." Die Stiftung "Hof Schlüter" unterstützt die Invaliden finanziell. Sie bedankten sich mit einem Orden für Peter Novotny.

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