Harsefeld. In der Gerüchteküche von Harsefeld ist das Urteil längst gefällt. Die schauerlichsten Geschichten, die Einheimische über den ehemaligen Bürgermeister erzählen, haben die Medien gar nicht wiedergegeben; einige sind nachweislich falsch. Fünf Mädchen von 11 und 12 Jahren haben der Polizei zu Protokoll gegeben, was er mit ihnen angestellt haben soll; ein Junge (14), der dabei war, ist nicht befragt worden. Das Gericht in Buxtehude wird zu klären versuchen, was juristisch von dieser Geschichte zu halten ist. Es wird nicht die Gerüchte beurteilen. Das Scherbengericht muß in Harsefeld selbst abgehalten werden: Warum ein tiefer Riß durch den Ort zwischen denen, die verdrängen wollen, und denen, die verdammen, geht; wer was gewußt und wer geschwiegen hat.
Wie immer waren mehrere Mädchen am Donnerstag, 2. September, auf der Ponyweide von Hans-Hinrich Meibohm (68) im Gewerbegebiet Weißenfelde. Reiten, Pferde pflegen. Anna (12) war da und Celina (11), Kerstin (11) und Andrea (12), Melanie (15) und andere. (Namen geändert, die Redaktion) Seit Jahrzehnten geht das so. An dem Tag habe Herr Meibohm sie angefaßt, sagt Anna. Zweimal, in seinem Auto soll es gewesen sein.
Wer Ponys und Reiten wollte, der mußte in Kauf nehmen, mit Herrn Meibohm im Auto zu sitzen. Die Tiere gingen den Mädchen über alles. Anna war seit vier Jahren auf der Weide. Die einen mochten den gehbehinderten Opa mehr, andere weniger. Er soll auch über so Sachen wie "Sex" und "Orgasmus" gesprochen haben. Hätten die Eltern alles erfahren, fürchteten die Mädchen, wäre es aus gewesen mit den Ponys, da hätten sie nie wieder hin gedurft.
Die Hand hat er ihr auf den Oberschenkel gelegt, unters Hemd, in die Hose geschoben, wirft Anna ihm vor. Sie wolle das nicht, wehrte sich Anna, sie sei aus dem Wagen gestiegen. Ein halbes Jahr zuvor, so das Mädchen, sollen die Belästigungen angefangen haben.
Kurz darauf soll Celina im Auto gesessen haben, mit Musik. Auch da soll die Hand des Mannes auf den Oberschenkel, unter dem Hosenbund gewesen sein. "Nötigung", "unsittliche Berührungen", "sexueller Mißbrauch" sind amtsdeutsche Umschreibungen des Tatvorwurfs. Den Mädchen kam es vor wie "Vergewaltigung".
Am übernächsten Tag sind sie wieder da. Reiten, Pferdepflege. Der Bürgermeister hat noch woanders zu tun. Sonnabend, 4. September: In einem Festzelt, keine 100 Meter entfernt von der Weide am Heuweg, feiern 4000 Gäste das 50jährige Jubiläum der Baufirma Viebrock. DJ Ötzi sorgt für Musik, Ex-SPD-Chef Björn Engholm hält eine Rede, und Otto Waalkes schaut auch vorbei.
Dann tauchte der Bürgermeister doch an der Weide auf, soll nach Bier gerochen haben. Aus dem Supermarkt soll er Alcopos mitgebracht haben. Er soll dann wieder mit Anna im Auto erneut zudringlich gewesen sein.
Celina sagt, als sie später selbst mit ihm im Auto war, habe sie ihn zur Rede gestellt. Warum er das mit Anna gemacht habe? Als Antwort soll er sie angefaßt haben. Schließlich soll er auch Kerstin nicht in Ruhe gelassen haben.
Sie gerieten in Panik, erzählen die Mädchen. Sie versteckten sich. Der Bürgermeister soll Anna dann in der Halle neben der Weide gefunden und sie an den Armen festgehalten haben. Sie weinte, sie will nach ihm getreten, sich losgerissen haben.
Die Mädchen verkrochen sich auf dem Dachboden eines alten Stalls, zogen die Aluleiter hoch. Sie tasteten auf ihren Handys nach 110. Celina kam um 17.10 Uhr durch. Zwei Polizistinnen aus Jork trafen am Tatort die Kinder mit rotgeweinten Gesichtern. Als sie fragten, was los sei, brach Anna zusammen.
Hans-Hinrich Meibohm war schon zu Hause, als er vorläufig festgenommen und zur Harsefelder Wache gebracht wurde. Er nutzte sein Recht zu schweigen. Die Blutprobe ergab 0,0 Promille.
Die Staatsanwaltschaft hat ihn beim Schöffengericht angeklagt. Sie hat die "Einsatzstrafen" für fünf Einzeltaten zusammengezählt, je sechs Monate Minimum, macht zweieinhalb Jahre Haft. Sofern es keine Milderungsgründe gibt. Meibohm ist nicht vorbestraft. Er hat niemanden überfallen, umgebracht, vergewaltigt. Gestraft ist er längst, begraben unter einer Lawine von Verdächtigungen und Verleumdungen, die Harsefeld, das "Feld der Pferde", überrollt hat. Nachdem die Anklageschrift vorlag, gab er seine Ämter auf. "Wir werden das durchkämpfen", verspricht Strafverteidiger Lorenz Hünnemeyer (47) seinem Mandanten. Und hat ihm Schweigen verordnet. Nur in seiner schriftlichen Rücktrittserklärung äußerte sich Meibohm - zu den Gerüchten: "Die in der Presse gegen mich erhobenen Vorwürfe sind unbegründet."
Hünnemeyer hat Lücken in der Geschichte der Mädchen entdeckt und ein Angebot aus der Justiz, auf einen Prozeß zu verzichten, abgelehnt. Unterdessen sucht Anwalt Rainer Kattau (45), der die Nebenklagen zweier Familien vertritt, Material zu den zehn Fällen, die von der Staatsanwaltschaft als "entweder zu unbestimmt, nicht zu erhärten, relativ geringfügig oder jedenfalls auch verjährt" aussortiert wurden.
Bei Zeitungen, Polizei und Staatsanwaltschaft meldeten sich Frauen, die ihre Erfahrungen auf der Ponyweide schildern wollten. Ein Vorfall soll sich vor 24 Jahren zugetragen haben, einer vor 15 Jahren, ein weiterer 1995. Der Anklagebehörde schien nichts davon verwertbar.
Daß Mißbrauch erst spät ans Licht gebracht wird, ist nicht ungewöhnlich, erklärt die Diplom-Psychologin Katja Pietzarka-Kampel von "Lichtblick", einer Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt in Buxtehude. Angesichts der Schwierigkeiten der kindlichen Opfer, sich zu offenbaren, beginnt die zehnjährige Verjährungsfrist erst mit dem 18. Geburtstag.
Kinderschänder sind keine Triebtäter, betont Pietzarka-Kampel. "Jeder Mißbrauch wird angebahnt", die Übergriffe seien "genauestens geplant und geschickt eingefädelt". Häufig werden Tiere als Lockmittel eingesetzt. In erster Linie geht es nicht um Sexualität, sondern um Macht. Drohungen dienen ebenso dazu, den Täter vor Entdeckung zu schützen wie die Opfer in Angst zu versetzen. Ein Kind, das sich wehrt, wird für den Täter uninteressant. Das Fatalste, sagt die Psychologin, sind oft nicht die konkreten Berührungen, sondern der Griff in die Seele des Kindes. 2003 verzeichnete "Lichtblick" 90 Beratungsfälle rund um Buxtehude. Die Dunkelziffer liegt um das 10- bis 20fache höher als die Zahl der Anzeigen.
Die Ponyweide als Falle, die Pferde als Köder - stillschweigend sei das geduldet worden, urteilen ein Busfahrer, die Dame aus der Südstraße, der arbeitslose Kraftfahrer. "Ich klage die Hälfte der Bürger von Harsefeld an", empört sich die Mutter von Celina. Ihre Tochter sei "eigentlich ein starkes Mädchen", sagt sie. Vor dem 4. September sei ihr nur aufgefallen, daß Celina darauf achtete, dem Bürgermeister nicht zu begegnen, wenn sie zu den Pferden ging. Der Volkszorn kochte sichtbar über. Die Scheiben von Meibohms Lebensmittelgeschäft wurden beschmiert; in einem Laden in Stade ließ eine Frau ein T-Shirt anfertigen mit seinem Konterfei und einer diffamierenden Aufschrift.
Während Klatsch und Tratsch eskalieren, bleiben die Offiziellen seltsam einsilbig: "Das Leben muß weitergehen . . . sein Problem, kein politisches . . . wir sehen keine Veranlassung zum Handeln." Niemand gibt eine Ehrenerklärung ab für den Ex-Bürgermeister. Die Devise lautet: "Das sollen die Gerichte machen." Die können nicht alles richten.
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