Alfred Kruse las den Abendblatt-Artikel. Als 17-Jähriger musste er 1944 in Wenzendorf Bombentrichter zuschütten

Scharmbeck/Wenzendorf. Das hat der 17 Jahre alte Junge aus Scharmbeck noch nie zuvor gesehen: Ein Flugzeug, aus dem ein Feuerstrahl schießt. "Mensch, ohne Propeller!", staunt der schmächtige Bursche. Es ist Herbst 1944. Alfred Kruse ist mit anderen Landwirten aus seinem Dorf zum Arbeitsdienst auf den Luftwaffenflughafen in Wenzendorf verpflichtet worden. Der Junge glaubt erst, die "Wunderwaffe" V1 gesehen zu haben. Den ersten Marschflugkörper der Welt, den das Dritte Reich seit Juni 1944 vor allem auf die Städte London und Antwerpen abschießt. Tatsächlich dürfte er einen Messerschmidt Me 262 Düsenjäger erblickt haben. Das Flugzeug mit Strahltriebwerk wurde auch in Wenzendorf gebaut.

Das Abendblatt berichtete über das beinahe vergessene Flugzeugwerk mit Flughafen in Wenzendorf. Die Flugzeugbausparte der Hamburger Schiffswerft Blohm und Voss und später faktisch das Deutsche Reich bauten und entwickelten hier von 1935 bis zur Zerstörung Ende 1944 Flugzeuge und neuartige Waffensysteme für die Reichsluftwaffe. Axel Kruse, heute 83 Jahre alt, las den Abendblatt-Artikel und erinnert sich an die kurze Episode seiner Jugendzeit. Der Scharmbecker ist einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen der Luftwaffen-Ära in Wenzendorf.

Nach dem ersten Angriff amerikanischer Bomber auf die Flugzeugfabrik in Wenzendorf am 6. Oktober 1944 werden Landwirte zum Arbeitsdienst abkommandiert. Aus Scharmbeck etwa sechs oder sieben Männer, darunter der erst 17 Jahre alte Alfred Kruse. Eher von schmächtiger Statur, war er vom Wehrdienst befreit. "Wir sollten die Bombentrichter verfüllen", sagt Kruse. Der Flugplatz sei stark beschädigt gewesen. Die heftigen Einschläge hatten die Betonplatten einen halben Meter hoch angehoben. "Das war reine Flickarbeit. Wir hatten das auch nicht mehr hingekriegt", erinnert sich Alfred Kruse.

Bomberverbände flogen über Wenzendorf

Bomber der Alliierten zerstörten die Montagehallen und die Flugpiste endgültig bei einem zweiten Angriff am 31. Dezember 1944. Einen Bombenangriff in Wenzendorf hat Alfred Kruse nicht erlebt. Die Flugzeuge der Alliierten seien immer in Richtung Berlin über ihren Köpfen hinweggeflogen. "Die konnte man gar nicht zählen", sagt Kruse. So viele seien es gewesen.

Es sind die ganz subjektiven Eindrücke eines 17 Jahre alten Jungen, die Alfred Kruse im Gedächtnis haften geblieben sind. In dem Alter sind das natürlich Mädchen. Alfred Kruse bandelt in Wenzendorf mit holländischen jungen Frauen, etwa älter als er, an. Sie seien für Montagearbeiten beschäftigt gewesen. "Ich hatte einen guten Draht zu ihnen", schmunzelt er. Was Alfred Kruse nie vergessen wird: Die holländische Frauen schmuggeln ihn in eine Kinovorstellung auf dem Werksgelände. Ein Wanderkino, das mit Pferd und Wagen über das Land zieht, zeigt "Immensee" - ein Film, der wegen einer Badeszene erst ab 18 Jahren freigegeben ist. "Wer keine 18 war, durfte nicht ins Kino. Das war für mich natürlich ein Erlebnis", sagt Alfred Kruse.

Von der Flugzeugproduktion sollen die Hilfsarbeiter von den Bauernhöfen möglichst wenig sehen. Alfred Kruse kann sich an die 10 000 Quadratmeter große Montagehalle erinnern, von der heute noch ein Foto existiert. "Ich war wissbegierig und habe versucht, in die Halle hineinzusehen." In solchen Momenten seien die Tore aber automatisch zugefahren worden.

Einmal schleicht sich der Junge, der gerne Pilot geworden wäre, in eine Halle hinein. Unter einer Plane abgedeckt steht ein Flugzeugrumpf. "Da habe ich kurz für mich allein Flugkapitän gespielt", weiß Alfred Kruse heute noch. In Erinnerung geblieben ist ihm auch noch die Milchsuppe in der Kantine, damals etwas Besonderes. Am Wachhaus habe es die Lebensmittelkarten gegeben. In den wenigen Wochen seines Arbeitsdienstes in Wenzendorf habe Alfred Kruse keine Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeiter gesehen. Erst jetzt im Abendblatt habe er davon gelesen. Es gilt als sicher, dass Kriegesgefangene und Zwangsarbeiter in dem Flugzeugwerk zum Einsatz gekommen sind. Die Geschichtsforscher haben aber nicht viele Hinweise.

Alfred Kruse übernahm das Gasthaus der Eltern

Offen ist nach wie vor der Zweck von mindestens 50 Gebäuden, die seit Anfang 1940 gebaut und später zerstört worden sind. Bauunterlagen für diese Gebäude sind nicht vorhanden. Nach Kriegsende wurde Alfred Kruse Gastronom und Hotelier. Er übernahm das Gasthaus seiner Eltern, das seine Familie noch heute führt. Beinahe 30 Jahre lang gehörte Alfred Kruse dem Vorstand des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes in Niedersachsen an. Für sein ehrenamtliches Engagement wurde Kruse vor acht Jahren mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.