Hamburg. Eigentlich mag Peter Alexander gar nicht hier sein, in dieser großen, fensterlosen Halle am Wiesendamm, einer ehemaligen Theaterwerkstatt. Das liegt zum einen daran, dass er keiner von den Lauten sein will, die sich in den Vordergrund spielen. Zum anderen verbindet er mit diesem Ort viele Erinnerungen, gute wie traurige, und heute sind es vor allem die traurigen. „Wir haben fast alle geweint, als die Busse kamen und wir uns voneinander verabschieden mussten“, sagt Alexander, „denn seit der Eröffnung dieser Einrichtung im Oktober 2015 waren die Flüchtlinge und wir, das Team, zu einer großen Familie geworden.“
260 Flüchtlinge aus 14 Nationen schliefen hier in 130 Etagenbetten aus grauem Metall, größtenteils Familien, die meisten aus Afghanistan und Syrien. Einige von ihnen lebten bis zu sechs Monate lang in der Halle. Das Team bestand aus 16 Johannitern, und es war ebenfalls ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus den unterschiedlichsten Berufen; nun versehen mit befristeten Arbeitsverträgen, die zum Ende des Jahres 2017 auslaufen würden.
Peter Alexander (57, Historiker und Ethnologe) hatte diesen Job ganz bewusst angetreten, weil er sich verändern wollte: heraus aus der Selbstständigkeit eines Vertriebsberaters und hinein in eine, wie er sagt, wirklich sinnvolle Tätigkeit. „Es war damals die Zeit, als so viele Flüchtlinge zu uns kamen und unser Land sich zu spalten begann. Ich wollte keiner dieser Polarisierer sein, sondern wollte diesen Menschen helfen, ganz gleich, ob deren Flüchtlingsstatus berechtigt war oder auch nicht. Das war übrigens uns allen egal. Wir haben immer versucht, all diesen Menschen mit demselben Respekt zu begegnen.“ Seine ersten Schritte seien zaghaft gewesen. „Unser Quartiersleiter Martin Späth führte mich durch das Gebäude. Es war mir unangenehm, den großen Saal zu betreten, denn es handelte sich schließlich um ein Schlafzimmer wildfremder Menschen. Aber dann war ich überrascht, als ich sah, dass die Familien ihre Betten mit Stoffbahnen abgeschirmt und sich ein Stückchen Privatsphäre geschaffen hatten. So ganz unwohl schienen sich die Bewohner jedenfalls nicht zu fühlen.“ Es dauerte nur wenige Tage, bis die Halle mit dem angrenzenden Speisesaal und seinen Bierbänken, den Dusch-, Wasch- und Hygieneräumen und dem Kinderbetreuungszimmer zu „seinem neuen Zuhause“ geworden sei, sagt Alexander, der mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Sasel lebt.
„Unser Team, das sich aus völlig unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Kenntnissen und Fähigkeiten, Stärken und Schwächen zusammensetzte, wuchs rasch zusammen. Und ich habe während meines langen Berufslebens tatsächlich keine intensivere und – meine Ex-Kollegen mögen es mir verzeihen – auch keine schönere Zeit erlebt als diese Zeit am Wiesendamm.“ Unterstützt wurden die Johanniter von der organisierten Barmbeker Gruppe Ehrenamtlicher („Welcome to Hamburg Barmbek!“), die Ausflüge für die Bewohner veranstalteten, bei der Essensausgabe halfen, die Kinderbetreuung übernahmen und weitere Freizeit- und Bildungsangebote offerierten.
Höhepunkt war eine große Malaktion
Die Stadtteilschule Meerweinstraße in Winterhude unterrichtete die 30 schulpflichtigen Kinder aus dem Wiesendamm, die Schüler und Lehrer der Heinrich-Hertz-Schule in Winterhude organisierten zwei Benefizabende und sammelten Spenden. Ein Höhepunkt war eine große Malaktion, bei der alle gemeinsam dafür sorgten, die schwarzen Wände mit farbenfrohen Bildern und Graffiti zu verschönern. Auf einem steht: „We all love Wiesendamm 24“. Alexander nickt gedankenschwer. „Auch die Mitarbeiter unserer Sicherheitsfirma gehörten zum Team. Sie packten ganz selbstverständlich mit an, wenn es notwendig war“, sagt er.
Bald bewegte er sich wie selbstverständlich unter den Bewohnern. Er war wohl auch ein wenig stolz, wenn afghanische oder syrische Männer sich erhoben, um ihn zu begrüßen, und einer der Flüchtlinge, der besonders eifrig Deutsch lernte, fragte ihn eines Tages: „Brauchst du Hilfe?“, und Alexander antwortete: „Nein danke!“ Dieser kurze Dialog, sagt der Johanniter lächelnd, habe sich zu einem Running Gag entwickelt. „Aber dann stand einmal ein anderer Syrer auf, als ich gerade den Müll rausbringen wollte und sagte: ‚Lass das. Ich mach das für dich!‘ Mehr Respekt und Dankbarkeit kannst du nicht kriegen!“ Nur ganz selten, sagt Alexander, habe es intern Ärger gegeben, obwohl das gesetzlich vorgeschriebene Nichtstun bekanntlich leicht den gefürchteten „Lagerkoller“ hervorrufen kann.
Er könne sich lediglich an zwei kurze Polizeieinsätze erinnern, nichts Dramatisches, und auch von draußen habe es nur eine einzige Beschwerde eines Anwohners gegeben, „weil wir in den ersten Nächten das Außenlicht, so wie vorgeschrieben, hatten brennen lassen.“
Dann kam die Nachricht von der Schließung. Die 260 Flüchtlinge sind nun über Hamburg verstreut und besser untergebracht, zumeist in Wohncontainern. Die Hauptamtlichen wurden auf drei weitere ZEA der Johanniter verteilt. Keiner wurde entlassen. „Aber es ist so schade, dass hier Schluss ist“, sagt Alexander. Und für alle Ahnungslosen, die mit dumpfen Parolen Stimmung gegen die Aufnahme von Flüchtlingen machen, hält er noch einen Ratschlag bereit: „Geht einfach mal auf diese Menschen zu, sprecht sie an und helft ihnen, wenn sie zum Beispiel vor einem Fahrkartenautomaten stehen und nicht weiterwissen. Ihr werdet Resonanz bekommen – und ich verspreche euch, es wird eine sehr gute, positive Resonanz sein.“
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