Seit Schach an der Grundschule Genslerstraße auf dem Stundenplan steht, zeigen die Schüler bessere Leistungen – nicht nur in Mathe. Auch Konzentrationsvermögen und Sozialkompetenz wachsen.

Hamburg. Für strategische Spiele habe sie sich eigentlich nie interessiert, erzählt Gabriele Rietow, 51. Seit sie aber als Lehrerin an der sportbetonten Barmbeker Grundschule Genslerstraße/Ballerstaedtweg arbeitet, muss sie es. An beiden Standorten steht Schach auf dem Stundenplan, 45 Minuten pro Woche. Schach statt Mathematik, Kunst, Heimatkunde oder Musik.

An ihre erste intensivere Begegnung mit dem königlichen Spiel kann sich Rietow noch genau erinnern. Vor sechs Jahren begleitete sie Schüler der Genslerstraße zum Traditionsturnier „Linkes gegen Rechtes Alsterufer“ ins Congress Centrum am Dammtor-Bahnhof. Als die Partien begannen, sagt Rietow, „herrschte plötzlich eine Ruhe in dem riesigen Saal, wie ich sie bei Kindern in diesem Alter noch nie zuvor erlebt habe. Man hätte das Fallen einer Stecknadel hören können.“ Irgendeine Faszination muss wohl von diesem Spiel ausgehen, schwante ihr.

Schach lehrt die Schüler, erst zu überlegen, dann etwas zu tun

Inzwischen hat sie in Fortbildungen Schach gelernt, weiß das Regelwerk kindgerecht aufzubereiten und zu unterrichten wie Silvia Gerstel, 28, und Sandra Lengwenus, 30, die Fachleiterin Schach an der Genslerstraße und am Ballerstaedtweg. Insgesamt 15 Kollegen vermitteln den 446 Schülern die Gangarten von König, Dame, Türmen, Läufern, Springern und Bauern. Und alle sind heute fest davon überzeugt, das Richtige für die Kinder zu tun.

Rietow, Gerstel und Lengwenus können zahlreiche Beispiele anführen, wie sich Schach positiv auf andere Fächer auswirkt, nicht nur auf Mathematik. „Wenn wir einen Atlas aufschlagen, finden sich die Kinder viel schneller zurecht, weil sie beim Schach, Dame von d1 nach h5, das Koordinatensystem gelernt haben“, sagt Lengwenus. Auch die sprachliche Entwicklung werde stimuliert, hat Rietow festgestellt: „Sie müssen begrifflich sauber erklären, was ihre Figuren machen. Da hilft es nicht zu sagen, irgendwo in irgendeiner Ecke passiert irgendwas. Das fordert und fördert das Ausdrucksvermögen.“ Gerstel sieht auch Fortschritte im Sozialverhalten: „Gerade Kinder, die aus herausfordernden Verhältnissen kommen, erhalten eine Bindung, sie lernen konstruktiv zu spielen. Und wer gut Schach spielt, erfährt Anerkennung von den anderen Kindern, keinen Neid.“ In beiden Schulen stehen in jedem Klassenraum bis zu zehn Schachspiele. Und nicht selten nutzen die Kinder die Pausen, um die Bretter für eine Partie aufzubauen.

Schach als motivierendes Fach ohne Noten wird derzeit an zehn Grundschulen in Deutschland gegeben. Ausgangspunkt war eine Studie des Zentrums für psychologische Diagnostik der Uni Trier. Sie lief von 2003 bis 2007 an der Olewig-Grundschule. Kinder, die in diesen vier Jahren Schach lernten, waren weit leistungsstärker als jene, die im herkömmlichen Fächerkanon unterrichtet wurden. Das Mathematik- und Leseverständnis der Schachspieler war bei einem Vergleichstest in der vierten Klasse doppelt so gut wie der Landesdurchschnitt in Rheinland-Pfalz, das Leseverständnis 2,5-mal besser, das Sprachverständnis dreimal so gut wie jenes der Nichtschachspieler.

Den Autoren der Studie fiel zudem auf, dass sich die Intelligenz der Schachspieler signifikant steigerte und leistungsschwache Schüler auffällige Fortschritte machten. Ähnliche Ergebnisse erbrachten Auswertungen des Schachunterrichts an anderen Grundschulen; zuletzt an drei Münchner Schulen, die seit 2011 von der Georg-Simon-Ohm-Hochschule Nürnberg in Kooperation mit dem Modus-Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung in Bamberg evaluiert werden.

Sie alle kommen zu demselben Schluss: Die Leistungsfähigkeit der Kinder wächst wie die Aufmerksamkeit und das Konzentrationsvermögen. Im Bericht zur Wirkung des Schulversuchs Schach an der Grundschule St. Georgen im Schwarzwald heißt es: „Der Zuwachs liegt weit über dem, was man von altersgemäßen Entwicklungen her erwarten konnte. Die Fehlleistungen wurden bei denen am deutlichsten reduziert, die es am notwendigsten hatten. Die Erhöhung der Konzentration geht auch daraus hervor, dass die Leistungen in den einzelnen Zeitabschnitten des jeweiligen Durchlaufs regelmäßig waren.“

Auch an der Genslerstraße sind längst ähnliche Phänomene zu beobachten. „Kinder denken tendenziell zu wenig“, sagt Rietow, „beim Schach lernen sie, erst einmal zu überlegen, abzuwägen und dann ihre Entscheidung zu treffen.“ Viele Schüler, haben Lengwenus und Gerstel registriert, gingen dadurch viel strukturierter an Sachaufgaben in Mathematik und in anderen Fächern heran. Dass diese subjektiven Eindrücke nicht täuschen, darauf lassen die obligatorischen Vergleichsarbeiten mit anderen Hamburger Grundschulen schließen. Genslerstraße und Ballerstaedtweg schnitten bei diesen Erhebungen weit besser ab, als es der von der Schulbehörde zugewiesene Sozialindex der Schule erwarten ließ.

Schulleiterin Monika Küsel-Pelz, 62, sucht jetzt für ihre Schule eine wissenschaftliche Begleitung, um auch für die Genslerstraße/Ballerstaedtweg das Experiment Schach als Fach auszuwerten. Bislang fehlt ein Sponsor. Ein Resultat steht aber bereits fest. Viele Schüler spielen inzwischen besser Schach als ihre Lehrer. Rietow, Gerstel und Lengwenus finden das ausgesprochen gut: „Das ist doch ein wunderbarer pädagogischer Erfolg!“