Norbert Schulz ist Phantombildzeichner bei der Hamburger Polizei. Er liebt seinen Bleistift - ist aber ein Pionier der Computer-Bilder.

Hamburg. Die einen sind vom Leben gezeichnet, den anderen sieht man ihre kriminelle Profession rein gar nicht an. Eines aber haben alle Kriminellen gemeinsam: Ein Gesicht, das sie einzigartig macht. Seit mehr als 100 Jahren gehört deshalb das Zeichnen von Phantombildern zum Standardrepertoire der Ermittlungs- und Fahndungsarbeit. Im dritten Stock des Präsidiums der Hamburger Polizei kümmert sich der gelernte Grafiker Norbert Schulz, 58, seit nunmehr 30 Jahren um diese Spezialdisziplin: Er ist einer der letzten deutschen Phantombildzeichner, die noch mit Bleistift und feuchtem Finger agieren können.

Obwohl Schulz nach wie vor am liebsten mit dem analogen Werkzeug arbeiten würde, ist er auch ein Pionier der Computer-Gesichtszeichnerei. Für das maßgeblich von ihm gestaltete "Phes"-Computerprogramm gab's im Jahr 2010 sogar den Sicherheitspreis der Handelskammer. Nebenbei ist Schulz ein echter Entertainer: "Ich bin nicht der Beste, vielleicht aber der Lockerste", sagt er.

In seinem Teilelager hortet Schulz unter anderem 3046 Gesichtskomponenten westeuropäischer Männer, 1934 Teile von Südländern und 1500 Augen, Nasen, Münder, Ohren und Haaransätze, die zusammengesetzt Frauengesichter ergeben. Etwa 100 Phantombilder setzt er aus ihnen pro Jahr zusammen - und lässt so untergetauchte Bankräuber, Gelegenheitsdiebe, Vergewaltiger und Mordverdächtige sichtbar werden. Nicht selten unter extremen Belastungen für ihn und die Zeugen, die Schulz' Hand am Rechner leiten. "Frauen, die ihren Vergewaltiger beschreiben sollen, muten wir so gut wie nie zu, am Tag des Geschehens noch ein Phantombild anzufertigen", sagt Schulz. "Es ist auch am Tag danach noch schwer genug und führt bisweilen dazu, dass sie wie erstarrt vor dem Rechner sitzen, weil sie dem Täter erneut in die Augen sehen." Bei Bankräubern ist dagegen Schnelligkeit gefragt.

Bis zum Jahr 1995 arbeitete er noch mit Bleistift, Wischtechnik und Radierer. Das sogenannte Fotofix-Verfahren, bei dem Gesichtskomponenten zusammengeschoben wurden, habe schon damals weniger getaugt. Dann kamen die ersten computergestützten Hilfsmittel auf den Markt: Ein Programm namens Facette, später Isis. "Alles teurer Tüdelkram", sagt Schulz. Weil er mit der Hand immer noch besser war als die Rechner mit ihren Komponentensystemen, entschied sich Schulz mit seinem Dienststellenleiter, selbst ein Programm zu entwerfen. Schulz: "So entstand 'Phes', das Phantombild-Element-System, das bis jetzt in vier Bundesländern eingesetzt wird. Es basiert auf dem normalen Photoshop-Programm, ist aber natürlich mit einem riesigen Archiv von Vorlagen ausgestattet." 3,08 Gigabyte an Schädelformen, Mündern, Nasen, Narben, Bärten, Ohren und Frisuren. Geschickt zusammengesetzt zaubert Schulz nach den Angaben von Opfern und Zeugen Gesichter, die wie Fotografien der Gesuchten aussehen.

Doch der neue Fotorealismus hat auch Tücken. Schulz: "Inzwischen sind wir wieder davon abgerückt, diese extrem realistischen Phantombilder bei Fahndungen zu benutzen. Wir wenden Aquarell- oder Schwarz-Weiß-Filter an, damit die möglichen Zeugen sich nicht zu sehr von einer genauen Hautfarbe oder dem exakten Bild beeinflussen lassen." Die Bilder sollten schließlich dazu dienen, so Schulz, dass mögliche Zeugen ihr Gedächtnis bemühten - nicht dazu, ein Foto der Erinnerung des Beschreibenden zu erstellen.

In seinem Büro hält Schulz ("Ich wollte schon mit zwölf Phantombildzeichner werden") stets Kaffee, Tee, Limonade und Gebäck bereit. Es sei wichtig, dass die Zeugen sich wohlfühlen, wenn sie sich mit ihm an den Rechner setzen, sagt Schulz. Manchmal muss er nicht nur Zeichner sondern auch Psychologe oder Seelentröster sein. "Ich muss die Menschen mit ihrer Erinnerung konfrontieren", sagt Schulz. "Und um die Erinnerungen richtig umsetzen zu können, muss ich immer einen Schritt voraus sein." Mindestens zwei Stunden dauert es, bis das Bild fertig ist, so Schulz. Es können aber auch mal sechs werden.

Schwierig seien Situationen, in denen zum Beispiel fünf Bankangestellte nacheinander einen Räuber beschreiben. Man staune, wie unterschiedlich die Phantombilder dann oft aussähen, sagt der Polizist. Dennoch hat er gelernt, den Zeugen nie in ihre Beschreibungen hereinzureden. Wie das kam? "Ein Mann beschrieb mir einen Räuber, dessen Gesicht nach menschlichem Ermessen so nicht aussehen konnte. Es war grotesk. Doch der Täter wurde gefasst - er sah wirklich so merkwürdig aus."

Die besten Beschreibungen, so sagt Schulz nach 30-jähriger Erfahrung, liefern Kinder. "Sie haben ein nahezu fotografisches Gedächtnis und können die Bilder noch verlässlich abrufen." Frauen erinnern sich hingegen oft nur an Haare und Augen, dies aber exakt. Und Männer könnten ihm, so sagt Schulz, zunächst oft nur bestätigen, dass der Täter Augen und Nase gehabt habe. Wie die Körperteile aussahen, erinnern sie erst nach langen Phasen des Vorschlagens und Verwerfens.

Der Mensch und sein Gesicht, so sagt Schulz, sind das Komplizierteste, was die Natur erschaffen hat. Und doch gibt es Regelmäßigkeiten: Das Ohr reicht fast immer genau von den Augenbrauen bis zur Nasenspitze, tief sitzende Brauen machen jedes Antlitz böse - und niemand ist in der Lage, so Schulz, ein taugliches Phantombild von einer Person anzufertigen, die er gut kennt. Selbst flüchtige Bekannte, die man in alltäglichen Situationen getroffen habe, sagt Schulz weiter, könne man nicht so beschreiben, dass ein brauchbares Fahndungsbild entstünde. Nur ein Verbrechen, eine Straftat, womöglich mit schweren Folgen für Freunde, Familie oder einen selbst, hinterlässt so tiefe Eindrücke, dass das wahre Gesicht sich ins Gedächtnis brennt.

"Vieles, was ich so höre, geht mir nah", sagt Schulz. "Aber es darf nicht zu nah gehen. Ich habe das Glück, gute Kollegen zu haben, mit denen man über so etwas sprechen kann. Und meine Familie natürlich." Im heimischen Dithmarschen greift er auch regelmäßig zu Bleistift und Radiergummi, um Gesichter zu malen - die seiner vier Enkelkinder. "Damit sie später ihre Entwicklungsschritte nachempfinden können." Auch ohne Fotos. Die hat ja schließlich jeder.