Neuwerk ist seit 700 Jahren ein Außenposten Hamburgs und im Sommer Ziel für Zehntausende Besucher. In der kalten Jahreszeit kehrt Ruhe ein.

Irgendwann wird die Nase taub, dann verschwindet das Gefühl in den Fingern. In Wolldecken eingehüllt sitzen wir auf dem offenen Wattwagen, der uns von Cuxhaven-Duhnen über das Watt bringt. Der Wind zerrt an unseren Kapuzen, als halte er uns für Störenfriede, die er von der Insel fernhalten will. Es ist noch früh am Morgen. Leise schnauben der Wallach und die Stute, die den Wagen ziehen. Hinter uns verblassen die Lichter der Stadt. Vor uns nichts als diesiges Grau.

"Hier raus, bei der Kälte. Wie kommt ihr denn auf die Idee?", fragt Postbote Joachim Wichmann, der vorn neben Kutscher Jan Brütt sitzt. Er dreht sich umständlich zu uns, gerade so weit es sein dicker Overall es Windjacken zulässt. "Post-Achim" nennen sie ihn auf der Insel. Zweimal die Woche bringt er die Briefe und Pakete. Um wie viel Uhr uns an welchen Tagen, das hängt von den Gezeiten ab.

Wir sind hier, weil wir wissen wollen: Ist das Leben auf der Insel um diese Jahreszeit nicht schwer? Oder nicht wenigstens fürchterlich öde? Keine Pension hat im Winter geöffnet, kein Restaurant, keine Kneipe. Nicht einmal Brot oder Gemüse bekommt man dann auf Neuwerk. Die Fahrt dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sich endlich die ersten Umrisse aus dem Nebel abzeichnen: Das zarte Relief der Bäume und der eckige Leuchtturm, der sie alle überragt. Der Turm ist das Wahrzeichen von Neuwerk, im Jahr 2010 haben die Insulaner seinen 700. Geburtstag gefeiert. Sie sind stolz darauf, den ältesten noch betriebenen Leuchtturm Deutschlands zu haben. Gleichzeitig ist er - 107 Kilometer nordwestlich vom Rathaus gelegen - Hamburgs ältestes Gebäude.

Eine Bö wirbelt pulvrigen Schnee auf dem gepflasterten Hof des Alten Fischerhauses auf und scheucht uns hinein in die gute Stube. Der Wirtsraum ist groß, zwei Busladungen voller Touristen haben darin Platz. Ein mächtiger Mann mit einem mächtigen Bauch kommt aus der Küche. "Hans-Werner Fock", stellt er sich vor, "Wattwagenfahrer, Bauer, Zimmervermieter. Und Schriftführer der Feuerwehr." Im Winter sei das Leben hier gemütlich, sagt der 53-Jährige. Wenn die Touristen wegbleiben, hat er selbst Urlaub.

Das Wetter ist immer noch ungemütlich, alle Farben sind verschwunden, die Sonne lässt sich nicht blicken. Kein Tag, um draußen zu sein. Aber wir sind gekommen, um die Insel kennenzulernen, also stapfen wir trotzdem los. Das Knattern schwerer Motoren lockt uns auf die andere Seite des Deiches. Zwei Arbeiter sind dabei, den Yachthafen frei zu baggern. Sie müssen sich beeilen, bald kommt die Flut, dann wird das Wasser zu hoch zum Graben.

Die Tide bestimmt nicht nur die Arbeit am Hafen, sie bestimmt auch, wann die Neuwerker einkaufen, ins Kino gehen oder zum Arzt. Dafür müssen sie das Niedrigwasser abwarten, um mit dem Trecker zum Festland zu fahren. Die Tide gibt den Takt des Lebens auf der Insel vor. Wenn man das überhaupt einen Takt nennen kann. Denn die Zeit scheint nicht gleichmäßig zu verrinnen. Mal glaubt man, sie hält inne, etwa wenn der Blick auf die Hecken rund um die Pferdekoppeln fällt, wo sich die Hagebutten, hauchdünn von Eis überzogen, ihr leuchtendes Rot bewahrt haben. Mal läuft sie rückwärts, wenn uns die Inselbewohner von früheren Zeiten erzählen. Wie Lüder Griebel im Hinterzimmer seiner Kneipe Zum Anker. Der 65-Jährige ist klein und drahtig, das wirre Haar steht ihm in alle Richtungen vom Kopf ab. Er erzählt von früher, als er noch der junge Lüder war, der mit seinem Vater auf Raubzug ging. Immer mal wieder trieben ein Sturm oder die schlechte Sicht ein Schiff vom schmalen Fahrwasser zwischen Neuwerk und der Nachbarinsel Scharhörn an Land. Gab die Besatzung auf und verließ das Schiff, war die Stunde der Neuwerker gekommen. Etwas gab es immer zu holen.

Wir spazieren zum "Friedhof der Namenlosen". Vertrocknetes Schilfgras steht am Ufer des Grabens, der ihn umschließt. Etwas schräg stehen die Holzkreuze da. Keine Inschriften. Hier beerdigten die Neuwerker seit dem 14. Jahrhundert verunglückte Fremde, die an ihre Ufer getrieben wurden.

Der Turm! Es wird Zeit, dass wir ihn uns näher ansehen. Das Sommerlokal nebenan liegt in tiefstem Winterschlaf. Der Turm selbst, wuchtig, breit, und aus rotem Backstein gemauert, macht seiner Geschichte als Wehrturm alle Ehre. Innen liegt der rauchige Geruch uralten Holzes in der Luft. Die rostrot gestrichenen Treppenstufen knarren und führen uns ins "Senatszimmer". 1962 traf sich an dem mächtigen Eichenholztisch in der Mitte des Raumes der damalige Hamburger Bürgermeister Paul Nevermann mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Georg Diederichs. Gemeinsam unterzeichneten sie den Vertrag, der Neuwerk wieder Hamburg zusprach - nachdem Hitler die Insel 25 Jahre zuvor der Stadt Cuxhaven zugeteilt hatte.

Vom Dach des Turms lassen sich alle 13 Häuser überblicken. Weit schweift der Blick über das Meer und verliert sich in der Ferne. Als wir abreisen, kommen uns Post-Achim und der Kutscher wie alte Bekannte vor. Leise schaukelt das Gefährt. Der Wind ist abgeflaut. Zum ersten Mal nach drei Tagen schält sich die Sonne aus dem Dunst.