Hamburg. Ein Hamburger hat seine Geliebte getötet. Beim Urteil sticht ihn ein anderer Mann nieder. Abendblatt-Mitarbeiterin erinnert sich.

Hinter mir höre ich ein Schnaufen. Es klingt angestrengt, sogar ein bisschen beängstigend. Wie von jemandem, der in höchstem Maße aufgewühlt ist. Doch ich habe keine Zeit, mich umzudrehen, um herauszufinden, wer da so schwer atmet. Ich bin konzentriert auf das, was vor mir geschieht.

In wenigen Metern Abstand zu mir steht ein Mann, der ein Verbrechen verübt und die Tat gestanden hat. Er hat das Leben seiner Freundin ausgelöscht. Er hat im Prozess vor dem Hamburger Landgericht zugegeben, dass er ihre Kehle zugedrückt und sie erdrosselt hat. In diesem Moment soll das Urteil gegen den Täter verkündet werden. Mehrere Jahre Freiheitsstrafe – oder sogar lebenslänglich?

Prozess Hamburg: Abendblatt-Reporterin erlebt Mord vor Gericht mit

Wie viele Jahre Gefängnis gegen ihn verhängt werden, spielt allerdings nur wenige Augenblicke später für diesen Täter keine Rolle mehr. Denn der Mann, der jemanden umgebracht hat, liegt nun selber hingestreckt auf dem Boden. Ein sterbender Körper in einer sich rasch ausbreitenden Blutlache. Ein Messer hat schwerste Verletzungen verursacht, sein Leben erlöscht schnell. Auch die Kunst eines Notarztes könnte den 39-Jährigen nicht mehr retten.

Ich kann kaum fassen, was ich da miterlebe. Ich bin, wie mehrere weitere Menschen, Zeugin eines Mordes geworden. Es ist ein Attentat coram publico – und für die Hamburger Justiz ein Verbrechen, das sie erschüttert. Denn es wird ausgerechnet in einem Verhandlungssaal begangen, wo sonst über Mord und Totschlag gerichtet, nicht aber ein solches Verbrechen verübt wird.

Gerichtsreporter sind vertraut mit zahllosen Facetten des Bösen

Wer wie ich als Gerichtsreporterin über Strafprozesse berichtet, hat oft mit dem Tod zu tun. Mit erschossenen und strangulierten Opfern, bei Verkehrsunfällen getöteten Personen, mit Menschen, die erstochen oder so massiv geprügelt wurden, dass sie an ihren Verletzungen sterben.

Erfahrene Gerichtsreporter sind vertraut mit zahllosen Facetten des Bösen. Sie erleben es anhand von Akten, von Schilderungen der Angeklagten und Zeugen, von Fotos, aus Erläuterungen von Sachverständigen. Es ist also ein indirektes Beobachten in der Retrospektive, von längst Geschehenem, das sich wieder abspult in einem Prozess. Entsetzlich, ganz sicher, aber nicht im Hier und Jetzt.

Diesmal jedoch, an diesem 14. September 1994, ist das Drama sichtbar, hörbar, spürbar. Es entlädt sich in Echtzeit, zudem nur wenige Meter entfernt. Vor meinen Augen erlebe ich einen Mord, sehe brutale und tödliche Gewalt.

Angeklagter: Die Frau wollte, dass ich sie beim Sex erdrossele

Eigentlich bin ich auf gewohntem Terrain, in einem Verhandlungssaal, in dem ich schon mehrere Prozesse um Kapitalverbrechen verfolgt habe. Jetzt soll das Strafmaß verkündet werden gegen einen Mann, der die Tötung seiner Geliebten gestanden hat.

Er hat zum Auftakt des Verfahrens erzählt, die angetrunkene Frau habe ihn immer wieder darum gebeten, sie beim Sex zu erdrosseln. Laut seiner Darstellung ist er lediglich ihrem innigen Wunsch nachgekommen, als er am 7. Dezember 1993 ein Kleidungsstück um ihren Hals geschlungen und zugezogen hat, bis das Leben aus ihr entwichen ist.

Bisher hat ein Kollege über diesen ungewöhnlichen Fall berichtet, doch jetzt, zur Urteilsverkündung, ist er im Urlaub. „Bettina, kannst du bitte den Termin übernehmen?“, bin ich gefragt worden. Natürlich kann ich. In den dreieinhalb Jahren zuvor habe ich über etliche Prozesse berichtet. Ich bin erfahren, kann mich schnell in den Fall einarbeiten. Ich bekomme das locker hin, denke ich. Von wegen!

Der Mann hinter mir rennt los und sticht auf den Angeklagten ein

29 Jahre liegt das Schreckliche, was da im Gerichtssaal auf mich eingestürzt ist, mittlerweile zurück. Und doch sind die Bilder, die seitdem in meinem Gehirn abgespeichert sind, nicht verblasst. Ich sehe es noch vor mir: den hochgewachsenen, drahtigen Angeklagten, der bei der Urteilsverkündung die Richter fixiert. Drei Jahre und neun Monate Freiheitsstrafe „wegen Totschlags im minderschweren Fall“, lautet die Entscheidung der Kammer.

Kurz nach dem Urteilsspruch stürmt ein Mann, der schräg hinter mir gesessen hat, an mir vorbei. Er flankt über die Balustrade, die den Zuschauerbereich des Verhandlungssaals von dem Areal mit den Verfahrensbeteiligten trennt.

Der Mann läuft zügig zum Angeklagten hin, hebt den rechten Arm und sticht von hinten zweimal auf den 39-Jährigen ein. Der Angriff ist so schnell erfolgt, dass das Opfer keine Chance hat, sich wegzu­ducken oder die Hände schützend hochzureißen. Der Getroffene dreht sich um, schlagartig weicht alle Farbe aus seinem Gesicht. Nun sackt er wie in Zeitlupe zusammen und liegt dann reglos auf dem Boden.

Attentäter nach seiner Tat: „Der soll mal krepieren, dieses Schwein“

Unter seinem Körper sickert Blut hervor und bildet eine immer weiter anwachsende dunkelrote Lache. Der Angreifer stiert, ein blutiges Messer noch in der Hand, voller Hass auf den Sterbenden und knurrt: „Der soll mal krepieren, dieses Schwein.“

Der Messermann ist ein Typ mit strähnigem Haar und wirrem Blick. Irgendwie registriere ich, dass er keine Schuhe trägt. Sicherheitspersonal hastet in den Saal, alarmiert über einen Alarmknopf vom Richtertisch, und überwältigt den Täter. Der schreit: „Lasst mich, ich tu doch nichts! Ich tu doch niemandem etwas!“

Was für eine Aussage aus dem Mund eines Mannes, der gerade hinterrücks einen anderen niedergestochen hat! Und wie zur Rechtfertigung fügt der Messermann hinzu: „Der hat meine Frau erwürgt.“ Im Gerichtssaal treffen jetzt Rettungsmediziner ein und kämpfen um das Leben des Niedergestochenen. Vergebens.

Rettungskräfte sind bei dem niedergestochenen 39-Jährigen. Doch sie können ihn nicht mehr retten.
Rettungskräfte sind bei dem niedergestochenen 39-Jährigen. Doch sie können ihn nicht mehr retten. © ullstein bild - Heuser | Heuser

Ein Mann, von dem Tumult im Saal angelockt, späht neugierig in den Raum und prallt entsetzt zurück. „Oh“, stöhnt er. „So viel Blut!“

Ein Mann ist entsetzt: „Oh“, stöhnt er. „So viel Blut!“

Einige Zeit danach tragen Sanitäter zwei Müllsäcke mit blutigen Tüchern aus dem Saal. Und ein Polizeibeamter kommt aus dem Raum und sagt über den 39-Jährigen nur: „Der ist tot.“

Später ist zu erfahren: Einer der beiden Messerstiche hat die Brustschlagader des Opfers getroffen und sie nahezu durchtrennt. Binnen kürzester Zeit ist der Mann verblutet. Der Messermann hat vollendet, was er sich in seinem Hass und seinem Wahn vorgenommen hat: Er hat den Tod einer Frau, die seine große Liebe war, rächen wollen.

Es ist eine ganz besondere und schließlich überaus fatale Dreiecksbeziehung gewesen, die Gabriele M., Karsten Z. und Otto R. (alle Namen geändert) miteinander verbunden hat. Gabriele M. ist 38 Jahre alt, Schauspielerin und seit Langem arbeitslos. Sie spricht häufig und intensiv dem Alkohol zu und leidet seit geraumer Zeit an Depressionen. Sie hat ein Verhältnis mit dem ein Jahr älteren Karsten Z.

Hamburger Todesopfer – es war eine überaus fatale Dreiecksbeziehung

Außerdem gibt es in ihrem Leben Otto R., einen 58 Jahre alten Hamburger. Der Computerfachmann hat sich heftig in die zwanzig Jahre jüngere Frau verliebt, hat sie umsorgt, ist da gewesen, wenn es Pro­bleme gab. Er hat wohl gehofft, mit seiner Traumfrau zusammenleben zu können. Eines Tages, irgendwann, wenn er nur lange genug wartet. Dann werde Gabriele M. begreifen, dass er der Richtige für sie sei.

Doch die Hoffnung von Otto R. wird auf brutalste Weise zerstört. Gabriele M. wird getötet. Angeblich, weil sie schon länger Todessehnsucht gefühlt habe. Ihr 38. Geburtstag am 7. Dezember 1993 wird zugleich ihr Sterbetag. Sie kommt in ihrer Hamburger Wohnung um, erdrosselt in ihrem eigenen Bett, von ihrem Liebhaber Karsten Z. Anschließend verlässt der 39-Jährige den Tatort und lässt den Leichnam in der gut geheizten und verwahrlosten Wohnung zurück. Über vier Tage bleibt ihr Tod unbemerkt.

Die Hamburgerin hat relativ zurückgezogen gelebt, ihre Familie stand ihr nicht so nahe, dass jemand sie schnell vermisst hätte. Und womöglich hätte die Tote noch viel länger unentdeckt in ihrer Wohnung gelegen, wenn nicht ausgerechnet der Mann, der sie umgebracht hat, einen Hinweis gegeben hätte.

„Gabi wollte sterben. Sie bat mich, sie zu töten“, sagt der Täter

Der 39-Jährige hat beim Pförtner eines Verlagshauses in Hamburg einen Zettel hinterlegt, darauf sein Geständnis: „Gabi wollte sterben, sie bat mich, sie zu töten“, hat der arbeitslose Dreher notiert. Und er kündigt dort ebenfalls an: „Am 7. Dezember 1994 werde ich mir auch das Leben nehmen, das habe ich meinem Liebling versprochen.“ Nach diesem Geständnis wird der Täter festgenommen und später vor Gericht gestellt.

Dort erzählt er, die arbeitslose Schauspielerin habe für ihr Leben keine Perspektive mehr gesehen. Seine Geliebte habe sich gewünscht, „auf dem Höhepunkt der Lust“ sterben zu wollen. „Gabi fing immer wieder davon an und sagte mir: Wir machen Liebe, und dabei tötest du mich“, sagt der Angeklagte im Prozess vor dem Landgericht.

Hamburger Rechtsmediziner: Todesursache bei der Frau ist Erdrosseln

Schließlich habe die 38-Jährige sich selber ein zerrissenes Hemd um den Hals gelegt – und er habe dann, weil sie es so wollte, zugezogen. Tatsächlich ist die Todes­ursache Erdrosseln, wie Rechtsmediziner bei der Obduktion zweifelsfrei festgestellt haben. Unter anderem sprechen deutliche horizontale Strangmarken, die um den Hals der Frau verlaufen, für einen Tod durch Strangulation. Außerdem war die getötete Frau zur Tatzeit hochgradig alkoholisiert, mit 2,5 Promille.

Ferner werden in der Rechtsmedizin unter anderem die Fingernägel des Opfers genau untersucht. Der Grund: Bei Tötungsdelikten, die aus unmittelbarer Nähe verübt werden wie Erdrosseln, könnte das Opfer im Todeskampf den Täter gekratzt haben. So können Hautpartikel unter die Fingernägel geraten sein, aus denen im Idealfall DNA des Täters ermitteln werden kann. Parallel dazu ist die Frage relevant, ob der vermeintliche Täter frische Ver­letzungen hat, also unter anderem Kratzspuren.

Das Urteil lautet auf drei Jahre und neun Monate Freiheitsstrafe

Also wird auch der Verdächtige Karsten Z. in der Rechtsmedizin untersucht. Bei ihm werden unter anderem frischere Hautkratzwunden im Gesicht und am Rumpf festgestellt. Das Alter der Verletzungen passt zum Todestag von Gabriele M. Doch der Mann, der die 38-Jährige erdrosselt hat, hat bei einer Vernehmung erzählt, die Kratzer seien entstanden, als er auf offener Straße mit einem Fremden in eine Prügelei geraten sei. Diese Schilderung ist nach den rechtsmedizinischen Befunden ebenfalls nicht ausgeschlossen.

Die Wahrscheinlichkeiten reichen insgesamt nicht aus, um nachzuvollziehen, ob es den Todeswunsch der Hamburgerin wirklich in dem Ausmaß gegeben hat, dass sie sich erdrosseln lassen wollte. Es lässt sich aber auch nicht widerlegen. Und so erkennt das Schwurgericht gegen Karsten Z. auf die relativ milde Strafe von drei Jahren und neun Monaten Freiheitsstrafe wegen Totschlags im minderschweren Fall.

Messerstich: Die Verletzung ist so schwer, dass jede Hilfe zu spät kommt

Dieser Moment der Urteilsverkündung ist es wohl, der den väterlichen Freund von Gabi M. ausrasten lässt und Otto R. dazu bringt, auf den Angeklagten einzustechen und ihn zu töten. Bei der Obduktion von Karsten Z. werden zwei Wunden festgestellt, eine in der Schulter, eine am Rücken.

Todesursache ist inneres Verbluten aus der Stichverletzung, die die Brustschlagader nahezu völlig durchtrennt hat. Der Tod ist innerhalb ganz kurzer Zeit eingetreten. Auch bei noch schnellerem ärztlichen Eingreifen wäre eine Rettung des Mannes nicht möglich gewesen.

Jetzt steht der andere Täter vor Gericht – die Anklage lautet auf Mord

Zehn Monate später steht der Mann, der im Verhandlungssaal das Attentat verübt hat, vor Gericht. Die Anklage gegen den 58-Jährigen lautet auf Mord, weil er heimtückisch gehandelt habe. Erneut bin ich als Gerichtsreporterin dabei. Ganz anders als bei Prozess gegen seinen Nebenbuhler wirkt Otto R. jetzt ruhig, abgeklärt. Ein Mann, der erzählen will, warum er getötet hat.

Er berichtet, Gabriele M. sei seine „große Liebe, mein Lebensinhalt gewesen. Und ich war für sie Vater, Liebhaber, Ehemann in einer Person.“ Er hat den Prozess gegen seinen 39 Jahre alten Nebenbuhler als Zuhörer verfolgt.

Attentäter: „Gabi war meine große Liebe, mein Lebensinhalt“

Und der Hamburger hat sich auf seinen Angriff vorbereitet. Er hat ein Küchenmesser in das Strafjustizgebäude geschmuggelt, vorbei an den Justizbeamten, die mit einer Metallsonde am Eingang alle Besucher abtasten. Jede Tasche wird überprüft. Alles, was als Waffe dienen kann, muss abgegeben werden.

Doch das Messer des Mannes bleibt unentdeckt. Ob er es in einem Aktenordner oder in einem Schuh verborgen hat, sodass es mit der Metallsonde nicht erfasst werden konnte, kann später nicht geklärt werden.

„Ich habe vor Gott rechtens gehandelt“, sagt Otto R. über sein Verbrechen. „Gabriele ist auch tot.“ Für ihn ist es ein Sühneakt, so simpel, so selbstgerecht empfindet er seine Tat. Der 58-Jährige sagt, er habe sich ein Leben ohne die Frau, die er liebte und die ihm dann durch Karsten Z. genommen wurde, „nicht vorstellen“ können. „Ich hörte im Urteil ,Totschlag‘, und da ging mir durch den Kopf: Jetzt richte ich ihn“, begründet der Angeklagte in seinem Verfahren sein Verbrechen.

Richter: „Der Angeklagte handelte heimtückisch“

Elf Jahre Haft wegen Mordes verhängt das Gericht später gegen den arbeitslosen Programmierer. Das bei Mord übliche „lebenslänglich“ wird in diesem Fall nicht ausgesprochen, weil laut psychiatrischem Sachverständigen eine verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten nicht auszuschließen ist. In der Urteilsbegründung heißt es, der Angeklagte habe die Tat lange vorher gedanklich vorbereitet. „Der Angeklagte handelte heimtückisch mit unbedingtem Tötungsvorsatz“, erklärt der Vorsitzende Richter.

Im Gerichtssaal habe das Opfer keinen Angriff erwartet „und durfte sich besonders sicher fühlen“. Über Selbstjustiz sagt der Vorsitzende: „Es ist ein schweres Unrecht, sich zum Richter aufzuwerfen und das Urteil selbst zu vollstrecken.“ Der Täter habe „kein Verständnis für seine Tat erwarten“ können.

Gericht Hamburg: Nach dem Attentat werden neue Sicherheitsschleusen eingebaut

Gerade mal 15 Tage nach dem Mord im Gerichtssaal werden die Sicherheitsvorkehrungen im Strafjustizgebäude verschärft. Dass neue – und bessere – Sicherheitsschleusen, ähnlich denen am Flughafen, eingebaut werden sollen, war vor dem Attentat bewilligt, der Termin hat schon länger festgestanden.

Damit hat man das Kapitel Sicherheit abschließen können. Aber wann die Bilder von damals in meinem Kopf gelöscht werden? Wahrscheinlich nie.