Hamburg. Bei dem Unglück im Jahr 1984 starben 19 Menschen im Hamburger Hafen. Manche Opfer blieben jahrelang verschollen.

Ein Knirschen, ein Splittern, ein Knall. Das Unheil kündigt sich geräuschvoll an. Und es kommt doch überraschend. Mit Wucht dringt Wasser der Elbe in die Barkasse „Martina“ ein. Immer höher steigt der Wasserspiegel, immer mehr werden die Fluten zu einer tödlichen Gefahr. Wer kann, springt von Bord, um sich zu retten.

Und dann richtet sich das Heck des Schiffes im Hamburger Hafen plötzlich auf. Eine Frau, die der Katastrophe gerade eben noch hat entkommen können, fühlt sich an ein anderes, legendäres Schiffsunglück erinnert: „Wie die ,Titanic’ im Kleinen.“ Es ist ein letztes Aufbäumen der „Martina“, bevor die Barkasse binnen Sekunden sinkt.

Elbe: 19 Menschen sterben beim Untergang der Barkasse im Hamburger Hafen

Dieser Schiffsunfall in Hamburg vom 2. Oktober 1984 gilt bis heute als eines der schwersten Unglücke im Bereich der Elbe. An diesem tragischen Tag wird das Leben vieler Menschen in ein Vorher und ein Nachher zerrissen. Vor der Katastrophe – und danach, als vor allem Schmerz und Stille herrschen, Trauer und Trostlosigkeit. 19 Menschen fallen dem Schiffsunglück zum Opfer.

Zugeschlagen hat das Schicksal auf einer Geburtstagsfeier. Sie hatte einen glücklichen Tag einer fröhlichen Gruppe markieren sollen. Doch der Tod nimmt keine Rücksicht darauf, welche Pläne die Menschen haben. Meist kommt er zur Unzeit – und viel zu früh. Und auch für jene 23 Menschen, die sich von der Barkasse gerade eben noch retten können, ist der Tod nun ein dunkler Teil ihrer Realität geworden.

Barkassenunglück auf der Elbe: Unter den Toten sind zehn Kinder

Denn jeder der Überlebenden hat einen seiner Liebsten verloren – oder sogar mehrere. Unter den 19 Toten sind zehn Kinder, das jüngste ist erst sieben Monate alt, als es in der Elbe ertrinkt. Mehrere Menschen sind in der Barkasse eingeschlossen gewesen und haben sich nicht befreien können. Eine Frau aber steht so nah an einem Fenster, dass sie durch einen Sprung hindurch vor dem Untergang des Schiffes entkommen kann.

Sie ist die Einzige von den Gästen im Inneren, die von der Barkasse nicht mit unter Wasser gezogen wird. Und nun treibt sie im Dunkeln in der zwölf Grad kalten Elbe, ganz allein, und wird zu einer fassungslosen Zeugin, wie die „Martina“ untergeht. „Und mit einem Mal herrschte absolute Stille“, erinnert sie sich später. „Es war unwirklich. Ein böser Traum.“

Hamburgs damaliger Bürgermeister von Dohnanyi: „Trauer liegt über unserer Stadt“

Als „schreckliches Unglück“ bezeichnet der damalige Innensenator Rolf Lange den Untergang der „Martina“ nur wenige Stunden nach der Katastrophe und drückt im Namen des Senats sein Beileid aus. „Ich empfinde tiefe Betroffenheit und Trauer.“ Zu einem Gedenkgottesdienst im Michel gut eine Woche nach dem Schiffsunglück kommen fast 1200 Menschen, unter ihnen etwa 100 Angehörige der Toten und Vermissten. Bürgermeister Klaus von Dohnanyi sagt in seiner Ansprache unter anderem: „Trauer liegt über unserer Stadt.“

Am Tag nach dem tragischen Unglück im Hamburger Hafen wird die Barkasse „Martina“ gehoben.
Am Tag nach dem tragischen Unglück im Hamburger Hafen wird die Barkasse „Martina“ gehoben. © picture alliance / rtn - radio tele nord | rtn, peter wuest

Niemand hat vor jenem fatalen Herbsttag ahnen können, wie viel Leid über die Beteiligten an der Schiffstour hereinbrechen würde. Es sollte eine fröhliche Feier werden, zu der ein Mann anlässlich seines 40. Geburtstags eingeladen hat. Die äußeren Bedingungen scheinen perfekt für den Ausflug auf dem Wasser. Am Himmel zeigen sich nur einige Wolken, und es herrscht mäßiger Wind, als die Barkasse an diesem Nachmittag des 2. Oktober 1984 an den Landungsbrücken ablegt.

Die Barkasse gerät bei der Fahrt auf der Elbe unter ein Schleppseil – und sinkt

Die Schiffsfahrt führt zunächst durch die Speicherstadt. Nach einem Zwischenhalt, bei dem einige Gäste von Bord gehen und andere zusteigen, steuert der Kapitän die Barkasse unter der Köhlbrandbrücke hindurch und wieder zurück Richtung Norderelbe. Der Schiffsführer will noch einen kleinen Schlenker Richtung Blankenese machen.

Was der 66-Jährige nicht weiß: Zur selben Zeit fährt der Schlepper „Therese“ von Finkenwerder elbaufwärts in Richtung Grenzkanal; an einem Seil zieht er eine Baggerschute hinter sich her. In Höhe des Altonaer Fischereihafens kommt es zur Katastrophe: Die Barkasse gerät zwischen Schlepper und Schute und unter das 25 Meter lange und 4,5 Zentimeter dicke Schleppseil.

Kapitän des Schleppers „Therese“: „Ich dachte bis zuletzt, sie dreht gleich ab“

Der Kapitän des Schleppers schildert jene schicksalhaften Momente später so: „Die Barkasse kam aus dem Köhlbrand im Winkel von 45 Grad auf uns zu. Ich dachte bis zuletzt, die dreht gleich ab und lässt uns vorbei.“ Doch die „Martina“ dreht eben nicht ab. Nur Sekunden, nachdem sie zwischen den Schleppverband geraten ist, wird die Barkasse von der Schute überlaufen und unter Wasser gedrückt. Innerhalb kürzester Zeit sinkt das Ausflugsschiff und reißt die Menschen an Bord mit sich in die Tiefe.

Wer sich wieder an die Oberfläche kämpfen kann, klammert sich an Rettungsringe. Vom Schlepper „Therese“ können etliche der Schiffbrüchigen bereits sehr schnell an Bord genommen werden. Sie sind erschöpft und vollkommen ausgekühlt durch den erzwungenen Aufenthalt im kalten Wasser. Aber: Sie leben. Die Besatzung der „Therese“ ist es auch, die sofort einen Hilferuf abgesetzt hat. Dieser wird von einem Boot der Wasserschutzpolizei aufgefangen – und sofort Großalarm gegeben.

Feuerwehr und Polizei: Sieben Minuten nach dem Großalarm sind erste Boote vor Ort

Sieben Minuten danach sind die ersten Boote von Feuerwehr und Wasserschutzpolizei an der Unglücksstelle. Bei der Such- und Rettungsaktion nach den Passagieren der „Martina“ sind insgesamt 650 Polizisten und Feuerwehrleute in 35 Booten, zwei Hubschrauber, 56 Funkstreifenwagen, sieben Feuerwehrzüge, zwölf Rettungswagen, zwei Notarztwagen und ein Großraumrettungswagen eingesetzt. Unterstützt wurde die Aktion noch von zahlreichen freiwilligen Helfern und acht Schleppern der Bugsier-Reederei.

Später sichert die Polizei Spuren im Wrack der „Martina“. Ein Rettungsring ist zerbrochen – tragisches Symbol für das Unglück.
Später sichert die Polizei Spuren im Wrack der „Martina“. Ein Rettungsring ist zerbrochen – tragisches Symbol für das Unglück. © picture alliance / rtn - radio tele nord | rtn, peter wuest

Bei der Rettungsaktion nach den noch vermissten Barkassengästen sperrt die Wasserschutzpolizei die Elbe für den Schiffsverkehr, von zwölf Booten aus wird mit Scheinwerfern das Wasser abgesucht. Nach vier Stunden wird die Aktion abgebrochen. Nach menschlichem Ermessen kann keiner mehr so lange in dem zwölf Grad kalten Wasser überlebt haben.

Schiffsunglück: Erst neun Tage später wird der Leichnam des Kapitäns entdeckt

Auch die Hoffnung, es könnten sich noch Menschen in der untergegangenen Barkasse in einer Luftblase gerettet haben, wird am nächsten Tag zerstört, als die „Martina“ gehoben wird. Niemand in dem Wrack ist der Katastrophe entkommen. Bei dem Schiffsunglück gestorben ist auch der Kapitän der Barkasse. So kann niemand mehr später genau nachvollziehen, wie sich für den Schiffsführer die Sichtverhältnisse dargestellt haben, ob er womöglich die Positionslichter des Schlepp-Verbandes in der Dunkelheit nicht bemerkt hat.

Der 66-Jährige ist neun Tage lang vermisst, bis sein Leichnam im Kuhwerder Hafen entdeckt und geborgen wird. Um mögliche Erklärungen dafür zu finden, wie es zu der Katastrophe kam, wird sein Leichnam von Experten aus der Rechtsmedizin des UKE aufs Genaueste begutachtet. „Es gab natürlich viele Fragen, wie es zu dem Unglück kommen konnte“, erinnert sich der damalige Direktor des Instituts für Rechtsmedizin, Prof. Klaus Püschel.

Warum der Schiffsführer nicht richtig reagiert hat, bleibt ein Rätsel

„Wir haben beim Schiffsführer keine medizinische Erklärung finden können, die als Unfallursache naheliegend war.“ Zwar sei der 66-Jährige Diabetiker gewesen, habe aber zum Zeitpunkt oder direkt davor keine Stoffwechselentgleisung gehabt. Eine akute Herzschwäche sei ebenfalls nicht festgestellt worden. Allerdings habe der Kapitän unter einer Herzerkrankung gelitten und früher nach einem Infarkt einen Schrittmacher implantiert bekommen.

„Die Überprüfung des Schrittmachers ergab keinen Anhaltspunkt für ein technisches Versagen.“ Nachgegangen worden sei auch der Möglichkeit, ob der Kapitän in seinem Sehvermögen beeinträchtigt gewesen sein könnte, beispielsweise durch Kurzsichtigkeit oder Nachtblindheit. „Doch sämtliche Nachforschungen bei den behandelnden Augenärzten ergaben keinen Hinweis auf eine Einschränkung.“

Tragische Schicksale: In manchen Familien gibt es gleich mehrere Todesopfer

Weitere Überprüfungen ergeben, dass der Schiffsführer weder unter dem Alkohol stand noch unter dem von Medikamenten. Als Todesursache wurde bei dem Kapitän ein sogenannter „abgekürzter Ertrinkungstod“ festgestellt, also eine Kombination zwischen Schocktod nach dem Hineingelangen ins Wasser und Ertrinkungstod.

Auch bei mehreren weiteren Opfern, die auf der „Martina“ gefeiert hatten und mit ihr untergegangen sind, dauert es Tage, Wochen oder sogar Monate, bis sie entdeckt werden. Die Strömung der Elbe hat einige Menschen weit fortgetragen. In manchen Familien gibt es gleich mehrere Tote zu beklagen.

Witwer: „Das Unglück schießt mir immer wieder wie ein Blitz durch den Kopf“

So musste eine Frau drei schwere Schicksalsschläge ertragen. Die Hamburgerin, die sich gerade eben noch an die Wasseroberfläche hatte retten können, erfuhr später, dass nicht nur ihr Mann ertrunken war, sondern auch ihre beiden kleinen Kinder – ein fünfjähriges Mädchen und ein Baby. Ein 32 Jahre alter Passagier der „Martina“, Vater zweier kleiner Kinder, wird Witwer. Die Erinnerung an das Unglück und den Verlust schieße ihm „immer wieder wie ein Blitz durch den Kopf“, sagt der Mann später.

Auch die Familie des Gastgebers, der zu seinem 40. Geburtstag auf die Barkasse eingeladen hat, wird auseinandergerissen. Der Vater und die Mutter haben überlebt, aber die beiden fünf und sieben Jahre alten Söhne sind verschollen. Tagelang bleiben die Eltern im Ungewissen, schwanken noch zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her. Dann, 17 Tage nach dem Unglück, wird der Leichnam des jüngeren Sohnes am Ostufer des Köhlbrands gefunden.

Nach dem Untergang: Ein Siebenjähriger bleibt jahrzehntelang verschollen

Er ist einer von mehreren Toten, die erst nach und nach entdeckt werden. Der Siebenjährige bleibt verschollen, auch Jahrzehnte später noch. Die Ungewissheit kann zermürben und zerstören. Warten zu müssen kann unerträglich werden wie ein tiefer, alles verschlingender Abgrund. Wenn es einen Abschied gibt, keinen Abschluss. Der Angehörige braucht ein Grab, an dem er trauern kann.

Deshalb ist neben der Mithilfe bei der Unfallrekonstruktion bei solchen Unglücken auch die Identifikation eine enorm wichtige Aufgabe für die Rechtsmedizin. Um den Toten einen Namen zu geben, bedienen sich die Experten dieses Fachs unterschiedlicher Methoden. Es helfen sogenannte „stabile Merkmale“ wie Narben, Tätowierungen, Amputationen beziehungsweise Prothesen.

Zahnstatus oder DNA: So werden die Toten identifiziert

Sehr häufig wird der Zahnstatus erhoben, also beim zuständigen Zahnarzt erfragt und mit dem Gebiss des Toten abgeglichen. Als sicherstes Mittel gilt immer die Erkennung über DNA. Sie ist wegen des technischen Aufwands allerdings auch problematisch.

Später wird der Fall des tragischen Barkassenunglücks vor dem Seeamt verhandelt. Es kommt zu dem Schluss, dass die Ursache für die Katastrophe mit 19 Totenopfern bei einem Versehen des Barkassenführers lag: Er wich mit seiner „Martina“ dem vorfahrtsberechtigten und vorschriftsmäßig beleuchteten Schleppzug nicht aus, obwohl er ihn trotz seines Sehfehlers erkennen konnte. Da allerdings der Verantwortliche selber bei der Kollision ums Leben kam, ist ein Schuldspruch formell nicht mehr möglich.

Elbe: Barkassenunglück im Hamburger Hafen war laut Richter ein „tragisches Versehen“

Dem Kapitän des Schleppers „Therese“ ist nach Auffassung des Seeamts kein Vorwurf zu machen. Dieser habe bis zum letzten Moment mit dem Abdrehen der Barkasse rechnen können, urteilt das Seeamt. Der Vorsitzende bescheinigt dem Schlepperführer „außerordentliche Umsicht und Sorgfalt“ bei der anschließenden Hilfsaktion.

Der Vorsitzende Richter der Verhandlung sagt auch: „Seit 60 Jahren fahren die Leute mit der ,Martina’ sicher wie in Abrahams Schoß durch den Hafen. Nie ist etwas annähernd Vergleichbares geschehen.“ Der tote Barkassenführer habe sich nicht verteidigen können. Es handele sich um ein tragisches Versehen, „das jedem passieren kann – das aber nur einmal eine solch unabsehbare Katastrophe zur Folge hat.“