Der Stadtteil galt als „Bronx des Nordens“, in den vergangenen Jahren hat er sich rasant verändert. Vor wenigen Monaten ist die Familie Mauerhof aus dem In-Viertel Ottensen gen Süden gezogen. Im Abendblatt ziehen sie Bilanz.

Bullerbü liegt in Wilhelmsburg. Die kleine Wohnstraße nahe dem Inselpark bietet das, was sich viele junge Familien erträumen. Eine ruhige Straße, eine warme Architektur mit Holzhäusern und zwischendrin viel Wasser und Grün. Auf den Wegen tollen Kinder, rasen auf Rädern und Rollern um die Wette. Einige Meter entfernt halten Anwohner einen Klönschnack. Wer bislang die Elbinsel auf sozialen Brennpunkt, Industriebrache, Verkehrsschneise oder Ödnis reduzierte, sollte sein Weltbild aktualisieren. Hier, am Schlöperstieg, wächst ein Idyll heran. Und nicht nur hier entpuppt sich Wilhelmsburg als lebenswert.

Der Stadtteil ist seit einem Jahrzehnt das Ziel der Stadtentwickler und Politiker, der Architekten und Gartenbauer. Was um die Jahrtausendwende als „Sprung über die Elbe“ begann, scheint in Wilhelmsburg zu landen. Im Herzen des Stadtteils ist rund um die Behörde für Stadtentwicklung die Neue Mitte entstanden, hier haben Architekten sich in die Zukunft gewagt, hier hat bis 13. Oktober die Internationale Gartenschau (igs) ihre Pforten geöffnet, hier laden Schwimmbad, Kletterzentrum, Wälderhaus zum Besuch. Noch wichtiger aber als die Milliardeninvestitionen sind die Menschen. Die Summen werden im Inselsand versickern, wenn nicht Menschen sich neu nach Wilhelmsburg trauen. Binnen eines Jahrzehnts soll die Einwohnerzahl von 50.000 auf 60.000 steigen. Vor allem Familien, so die Hoffnung, sollen auf die Insel ziehen.

Familien wie die Mauerhofs. Sie haben vor wenigen Monaten den Sprung vom Spritzenplatz aus dem hippen Ottensen ins fremde Wilhelmsburg gewagt. Und sie bereuen nichts. „Wir haben alles richtig gemacht. Es ist noch ein bisschen wie im Urlaub“, sagt Johannes Mauerhof. Der Blick des 46-Jährigen schweift in die Weite, über kleinere fast englisch anmutende Reihenhäuser hinweg bis zur Aurora-Mühle. An ihr eigenes holzverkleidetes Stadthaus schmiegt sich ein Gemeinschaftsgarten, den die Nachbarn zusammen nutzen, dahinter fließt eine Wettern, ein Entwässerungsgraben. Wilhelmsburg ist eine Insel. Und was für eine. Es ist die zweitgrößte Flussinsel der Welt, nach Manhattan. Doch vielen Hamburgern ist New York vertrauter als der Süden der eigenen Stadt.

Johannes Mauerhof kennt Wilhelmsburg seit Jahren. Zu Beginn des Jahrtausends arbeitete er hier als Sozialpädagoge mit Jugendlichen und lernte früh die verschiedenen Seiten des Stadtteils kennen. Im Jahr 2000 biss ein Kampfhund den kleinen Volkan auf einem Schulgelände zu Tode, Wilhelmsburg galt als die „Bronx des Nordens“, ein Stadtteil mit hoher Kriminalität und vielen Problemen, ein Viertel, das die Stadt abgeschrieben hatte. Seit der Sturmflut von 1962 hatte Hamburg Wilhelmsburg de facto aufgegeben. „Mich konnte nichts mehr erschüttern“, sagt er. Doch rasch begann er, die positiven Seiten zu sehen. „Wilhelmsburg hat lebenswerte Ecken und einen rauen Charme, hier ist man gleich beim Du“, sagt Mauerhof. Mit seiner Frau Diane Hülsmann entdeckte er die vermeintliche No-go-Area. „Der Stadtteil hat etwas Dörfliches, man kennt sich“, sagt die 41-Jährige. Vor fünf Jahren erwog die Familie erstmals, in Wilhelmsburg ein Haus zu kaufen, doch der Plan scheitert. Vor vier Jahren dann wurden sie auf eine Werbekampagne der Internationalen Bauausstellung aufmerksam, die Baugemeinschaften sucht. „Wir kannten keinen, aber wir waren neugierig“, sagt Hülsmann.

Man trifft sich und versteht sich. Zuvor hatte die IBA einen Architekturwettbewerb für das Baufeld, die Neuen Hamburger Terrassen, ausgelobt. Nicht alles läuft rund, aber im Frühsommer ist das Quartier am Schlöperstieg endlich fertig. Die Hälfte der Bewohner sind Familien, hinzu kommen mehrere Paare und Alleinstehende, Menschen unterschiedlicher Herkunft. Viele Kreative ziehen ein, Lehrer und Mitarbeiter der Stadtentwicklungsbehörde. Ihr Arbeitgeber folgt im Sommer mit 1500 Beschäftigten über die Elbe. Lange gab es bis in die Behördenleitung Vorbehalte gegen den Umzug an die Neuenfelder Straße. Dabei ist er das überzeugende Statement für den Süden – und der Beweis, dass die bunten Broschüren der Behörde mit Leben gefüllt werden.

Stadtentwicklung ist ohne Wilhelmsburg nicht denkbar. Denn Hamburg will und wird weiter wachsen; die offizielle Prognose sagt eine „Renaissance der Stadt“ voraus. Hatte die Elbmetropole im Jahr der Wiedervereinigung 1,65 Millionen Bewohner, so sind es heute 1,8 Millionen, und diese Zahl steigt bis 2025 weiter auf 1,825 Millionen. Hamburg ist eine Insel der Seligen im Orkan demografischer Verwerfungen. „Einer immer größer werdenden Gruppe von schrumpfenden Kommunen steht eine kleiner werdende Gruppe mit teils kräftigem Wachstum gegenüber“, heißt es in der jüngsten Raumordnungsprognose des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung. „Dazu gehören die wirtschaftsstarken Metropolen Frankfurt, Stuttgart und Hamburg.“

Die Hansestadt wächst vor allem im Süden. „Wilhelmsburg hat ein unheimliches Potenzial“, sagt etwa Prof. Rolo Fütterer, der den Masterplan Neue Mitte Wilhelmsburg entwickelt hat. Hier sind große Flächen noch unbebaut oder werden durch den Strukturwandel frei. Der Blick richtet sich vor allem auf den Norden der Flussinsel bis zum Spreehafen. Stadtentwicklungssenatorin Jutta Blankau (SPD) möchte 5000 neue Wohnungen bauen, der soziale Wohnungsbau genießt Priorität.

Dieses Wachstum gefällt nicht allen, das Wort von der Gentrifizierung, der Aufwertung des Stadtteils mit nachfolgender Preisexplosion, spukt auch durch Wilhelmsburg. Die IBA selbst will „aufwerten, ohne zu verdrängen“. Das klingt nach der Quadratur des Kreises und könnte doch gelingen. Viel Geld fließt eben nicht nur in teure Neubauten, sondern auch in einst heruntergekommene Sozialbauten wie das Weltquartier.

Die öffentlichen Millionen ziehen private Investitionen an. Nach und nach eröffnen Kneipen, Cafés und Läden, einen Buchladen gibt es schon länger. „Es tut sich eine Menge“, sagt Diane Hülsmann. Eigentlich fehlten nur noch ein Bioladen und Klamottengeschäfte. Vermutlich lassen auch die nicht mehr lange auf sich warten. „Manchmal fühlt man sich schon wie ein Gentrifizierer“, sagt sie nachdenklich. Doch ihr Mann widerspricht: „Ich nicht! Wir hören immer wieder von alten Wilhelmsburgern, dass sie sich über den Zuzug freuen.“

Stadtentwicklungssenatorin Jutta Blankau geht noch weiter, sie formuliert es als Ziel der Politik: „Die Menschen müssen sich mit dem Stadtteil identifizieren. Nichts ist wichtiger, als dass Eltern ihre Kinder gern in die Kita oder die Schule bringen.“ In den vergangenen Jahren lag hier ein Kernproblem: Noch immer melden Eltern ihre Kinder um, damit sie in einem besseren Umfeld zur Schule gehen können, selbst Zuzügler schicken ihren Nachwuchs auf stadtteilfremde Einrichtungen. Der Migrantenanteil ist hoch, der soziale Status niedrig. Im Dezember 2012 machten die Schulleiter der Insel in einem Brandbrief an den Senator auf die „nicht mehr hinnehmbare Häufung von Problemlagen“ aufmerksam und warnten gar vor einem „Deichbruch“ infolge der Überlastung der Lehrer.

Auch die Mauerhofs treibt die Sorge um, dass die Politik sich nicht ausreichend um die Schulen kümmert. Tochter Marie und Sohn Piet gehen seit Sommer in Wilhelmsburg zur Kita und Schule. „Die Schule freut sich über uns Neu-Wilhelmsburger“, sagt Hülsmann. Die Eltern sind zufrieden. „Hier ist eben alles bunter. Die Kinder gehen damit sehr unbefangen um. Ihnen ist egal, ob ihre Klassenkameraden Max und Paulina oder Adriano und Yasemin heißen“, sagt Hülsmann. Bildung ist der wichtigste Baustein des neuen Wilhelmsburg. Kirchdorf hat mit der „Tor-zur-Welt-Bildungszentrum“ die teuerste Schule der Stadt bekommen, an der Fährstraße entsteht jetzt sogar die erste Waldorfschule in staatlicher Hand. Es ist ein großes Aufwertungsprogramm im Gange, mit offenem Ausgang.

Leichter als die Schullandschaft lässt sich die Landschaft gestalten. Mit der Internationalen Gartenschau bekommt Wilhelmsburg einen prächtigen Volkspark spendiert. „Parks und Landschaftsbilder bilden die Struktur einer attraktiven Wohnstadt“, sagt igs-Chef Heiner Baumgarten. „Um junge Familien in der Stadt zu halten, bedarf es Flächen zur Kultur und Erholung, zu Sport und Gesundheit.“ Der neue Inselpark übernimmt mehrere Aufgaben: Er soll ein Mitmach-Park werden, der Verbindungen, Treffpunkte und Identifikation schafft. Wenn die Wilhelmsburger Reichsstraße 2017 endlich verlegt sein wird, liegt der Volkspark wie ein Central Park inmitten der Insel, die schon jetzt von Wasser und Grün durchzogen ist. „Man wohnt mitten in der Stadt und mitten in der Natur“, sagt Johannes Mauerhof. „Einen Umzug nach Lurup oder Niendorf hätten wir uns nie vorstellen können.“

Die Familie fühlt sich nach 100 Tagen heimisch. „Als ich kürzlich in Ottensen war, dachte ich, ich käme vom Land. So voll waren die Straßen und Cafés“, sagt Hülsmann. Sie hatte sich mit dem Umzug im Frühsommer schwergetan. „Ich war wehmütig und hatte viele Zweifel, die Kinder aus ihrem Umfeld herauszureißen. In Ottensen wäre einiges einfacher gewesen.“

Die Reaktionen vieler Bekannter verstärkten ihr Hadern. „Die Reaktionen waren schon sehr gemischt: Wenige fanden es cool, die meisten sagten, sie würden sich das nicht trauen.“ Und andere reagierten verständnislos, wie man mit den Kindern nach Wilhelmsburg ziehen kann. „Noch heute fragen einige ernsthaft, wie es uns hier draußen geht“, sagt Hülsmann. Mit der S-Bahn sind es vom Hauptbahnhof bis Wilhelmsburg gerade acht Minuten, in den Köpfen vieler Hamburger bleibt die Insel so weit entfernt wie eine Acht-Tage-Reise. „Das wird sich erst ändern, wenn die U-Bahn hier durchfährt.“ Kürzlich brachte Hochbahn-Chef Günter Elste eine Verlängerung der U4 über die HafenCity hinaus bis Wilhelmsburg erneut ins Gespräch.

Die Bahn könnte die Mauer in den Köpfen der Hamburger überwinden helfen. Die Werbetrommel wird längst gerührt. Senatorin Blankau lobt das neue Wilhelmsburg als „eines der innovativsten Quartiere Europas“. Bauausstellung und Gartenschau seien zwar die Höhepunkte, nicht aber die Schlusspunkte der Entwicklung, verspricht sie. Und: Der Senat wird den Stadtteil weiterentwickeln.

Zu tun gibt es noch reichlich: Das Korallus-Viertel oder Kirchdorf-Süd wirken noch immer wie unwirtliche Trabantenstädte. Aber auf Bilder von Betonsilos lässt sich der Stadtteil nicht mehr reduzieren. Wilhelmsburg bietet mehr: alte Fabriken und Hinterhöfe mit Kleingewerbe wie Industriebrachen, Gründerzeitbauten wie Billigläden. Vieles wächst nebeneinander, vieles ist im Umbruch. „Das erinnert ein wenig an Ottensen, wie es früher war“, sagt Mauerhof. Er weiß nicht, ob auch Wilhelmsburg eines Tages wie Ottensen wird. „Klar ist nur: Es wird bunt bleiben. Und das ist auch gut so.“

Mit jedem Sprung über die Elbe kommt das Denken in Bewegung. „Wilhelmsburg ist ein ganz normaler Stadtteil. Man braucht keinen besonders großen Mut oder Idealismus, um hier zu leben“, sagt Hülsmann. „Ich fühle mich nicht als Pionier, sondern eher als Botschafter für Wilhelmsburg“, fügt Mauerhof hinzu. Ihre beiden Kinder sind längst Wilhelmsburger.