Hamburg. Ich habe gerade eingeparkt. Also rückwärts. Und zwar mitten in der Innenstadt. Und hinter mir haben sogar drei Autos gewartet. Und außerdem, na ja, eigentlich war’s das auch schon. Klingt langweilig? Das ist es keinesfalls. Für meine Beifahrerin ist es sogar ein Grund, schnell auszusteigen und ein „Beweisfoto“ zu machen. Ein wenig albern komme ich mir dabei schon vor. Aber irgendwie ist es mir auch egal. Denn in Wahrheit platze ich vor Stolz. Rückwärts eingeparkt habe ich seit rund 14 Jahren nicht mehr. In in die Stadt gefahren bin ich auch nicht mehr. Im Grunde bin ich nirgendwo mehr hingefahren seit dem Tag, an dem das Auto mein Feind wurde.
Damals, an diesem heißen Augusttag im Sommer 2003. Damals stand ich mit meinem Wagen an einer Kreuzung einer Landstraße. Aus dem Radio dudelte irgendein Sommerhit. Ich setzte den Blinker, schaute nach links und rechts und fuhr dann los. Erst, als es schon zu spät war, sah ich die beiden Motorradfahrer. Ich riss das Lenkrad zur Seite, kam am Straßenrand zum Stehen. Im Rückspiegel sah ich, wie eine Bikerin neben einem Baum auf dem Rasen lag. Der andere Fahrer rief ihren Namen. Keine Antwort. Noch mal. Keine Antwort. Einen Moment lang glaubte ich, dass sie tot sei.
Später erfuhr ich, dass sie sich „nur“ einen komplizierten Bruch zugezogen hatte. In den Wochen danach stieg ich nicht mehr ins Auto, in den nächsten Jahren nur noch, wenn ich keine Ausrede hatte. Aber die hatte ich meistens: In der Stadt braucht man doch kein Auto, U- und S-Bahn sind doch total praktisch, und umweltschonender ist es auch. Die Wahrheit hätte einfach doof geklungen: Ich bin seit Jahren kein Auto mehr gefahren und habe jetzt Angst davor.
Hamburg zählt zu den anspruchsvollsten Städten
Weil ich mir vorgenommen habe, daran etwas zu ändern, sitze ich nun mit Alexandra Bärike im Auto. Ein Freund hat es mir netterweise zur Verfügung gestellt. Die 46-Jährige ist Fahrlehrerin und Psychologin und betreibt in Köln eine Praxis für Angstbewältigung. In allen großen Städten bietet sie Tages- und Wochenendtrainings an. „Hamburg zählt für Autofahrer neben München, Frankfurt und Köln zu den anspruchsvollsten Städten“, sagt sie. Selbst Berlin findet sie übersichtlicher.
Dann gehts zu meinem Thema. Wovor ich genau Angst habe, möchte sie wissen. Die Liste ist lang: Davor, dass ich andere Menschen verletze, dass ich wie eine alte Oma fahre, dass ich andere Autofahrer nerve, dass ich nicht einparken kann und mich auf den Straßen in Hamburg doch sowieso verzettle. Bärike notiert sich die Punkte und nickt entspannt. Sie kennt heftigere Probleme. Viele ihrer Kunden haben ausgeprägte Panikattacken, müssen mitten im Tunnel oder auf Brücken aussteigen und sich vor Angst übergeben. Aber Bärike arbeitet auch mit Menschen wie mir zusammen, die einfach nur irgendwie wieder einen Anfang finden müssen.
Und sie ist eine Meisterin, vermeintlichen Schwächen ein positives Gesicht zu geben. Wegen meiner Unfallerfahrung würde ich wahrscheinlich immer eine vorsichtige Autofahrerin bleiben. Das sei doch prima. Und dass ich Sorge habe, andere Menschen zu stören, zeuge doch von viel Empathie. „Eine gute Eigenschaft.“ Aber damit soll nun Schluss sein. Lektion Nummer eins: nicht zu sehr auf die anderen achten. Klingt seltsam, aber beim ersten Einparkversuch verstehe ich, was sie meint. Denn plötzlich dreht Bärike den Rückspiegel einfach zur Seite. So, dass ich gar nicht mehr sehen kann, ob hinter mir jemand wartet. Und dann soll ich „einfach mal machen“. Und dann mache ich einfach, und es klappt sofort.
Plötzlich macht sich Hektik breit
„Zufallstreffer“, sage ich. „Naturtalent“, sagt Bärike. Und dann geht’s weiter. Im Vorfeld hatten wir besprochen, was wir schaffen wollen. Einer meiner Wünsche war eine Fahrt zum Flughafen. Auch das hatte ich bisher immer vermieden, weil ich fürchtete, ich würde bei den vielen Schildern den Überblick verlieren. Also machen wir uns auf den Weg. Während der Fahrt redet Bärike manchmal ohne Punkt und Komma. Wir sprechen über Reisen und Kunstausstellungen und kommen von einem zum anderen. Erst später erzählt sie mir, dass das dazugehört. Eine normale Fahrsituation zu simulieren, in der eben auch mal Gespräche dazugehören, die nichts mit dem Straßenverkehr zu tun haben. Als wir beim Flughafen ankommen, sagt mir Bärike, dass sie sich hier auch nicht auskennt.
Ich werde sofort hektisch. Und dann passiert das, was ich immer befürchtet habe. Ich verheddere mich, finde die Ausfahrt nicht und muss eine Extrarunde drehen. Nur, dass ich plötzlich gar nicht mehr verstehen kann, warum ich davor solche Angst hatte. Was ist denn schon dabei?
Das ist vielleicht die zweite Lektion: Fehler machen ist kein Drama. Passiert jedem, immer wieder, jeden Tag. Egal. Einfach weiterfahren.
„Hauptsache, wir kommen an“
Vom Airport geht es in die Innenstadt. Auf dem Weg dorthin biege ich einmal falsch ab und muss anders fahren. Für andere sind das Kleinigkeiten – mich bringt es sofort aus dem Konzept. Aber Bärike schafft es immer wieder, mich zu beruhigen. „Ist doch egal, wie Sie hinkommen, Hauptsache, wir kommen an.“ Als ich dann einen nicht ganz korrekten Spurwechsel hinlege, frage ich sie, ob sie Angst hat. Schließlich ist es kein Fahrschulwagen. Wenn ich etwas vermassle, kann sie nicht einfach ihre Pedale drücken. Bärike lacht. „Nein, Sie haben Angst, und ich passe auf. Was soll denn da passieren?“ Ihre persönliche Statistik aus 30 Jahren als Fahrtrainerin beruhigt mich: kein Unfall. In der Innenstadt angekommen, übe ich noch mal zu parken. Klappt wieder sofort. Ich: „Zufall.“ Bärike: „Naturtalent.“ Vielleicht doch kein so schwerer Fall, sage ich. „Im Grunde sind Sie überhaupt kein Fall“, sagt sie.
Kein Fall? Noch nicht mal ein kleiner? Das ist, als ob man fest davon überzeugt ist, eine Lungenentzündung zu haben, und der Arzt einen dann mit einer Packung Tempotaschentüchern nach Hause schickt. Zum Abschluss fahren wir noch über die Köhlbrandbrücke, durch den Elbtunnel und wieder zurück zu meiner Wohnung nach Eimsbüttel. Nervös bin ich dabei immer noch, aber es wird mit jedem Kilometer besser. In der Nähe meiner Wohnung finde ich einen Parkplatz. Als es wieder problemlos klappt, schmunzelt Bärike nur. „Naturtalent halt“, sage ich.
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