Harvestehude. Als Ali und Nesifa Musawi zum ersten Mal aus ihrem etwa zehn Quadratmeter großen Zimmer an der Sophienterrasse auf stuckverzierte Fassaden und weitläufige Fensterfronten blickten, staunten sie nicht schlecht: „Wir waren schon sehr überrascht über die schönen Häuser“, sagt Nesifa, während sie ihren sechs Monate alten Sohn Mohamed in ihren Armen wiegt. „Wir wussten nicht, dass hier so wohlhabende Menschen wohnen, wir kannten den Standort vorher ja gar nicht.“
Der Standort, die Nachbarschaft – lange Zeit bevor Ende Januar 182 Menschen aus sechs Nationen in das ehemalige Kreiswehrersatzamt zogen, spielte die prominente Harvestehuder Umgebung die Hauptrolle in der Berichterstattung. „Vor allem am Einzugstag waren die Menschen der Presse schon sehr ausgesetzt“, sagt Caroline Smolny, die als Heimleiterin im Nieselregen zahlreiche Interviews führen musste und noch heute mit den Folgen des Medienrummels hadert. „Ein Alsterspaziergang führt neuerdings offensichtlich auch in die Sophienterrasse.“ Oft kämen Passanten unangemeldet herein, um sich auf eigene Faust in dem gelben Backsteinbau umzusehen oder sich nach den Toiletten zu erkundigen.
Dass die Folgeunterkunft kein öffentliches Gebäude, sondern eine Wohneinrichtung ist, musste auch Uwe Koch den Bewohnern der um die Ecke gelegenen Seniorenresidenz St. Johannis-St. Nikolai deutlich machen. „Wir mussten unseren Klienten erst einmal vermitteln, dass sie nicht einfach mal so rübergehen können“, erzählt der Leiter des Altenheims am Mittelweg. Beim ersten Zusammentreffen der beiden Heimleiter ging es deshalb darum, das Interesse und die Hilfsbereitschaft der Senioren in geregelte Bahnen zu lenken. Bald soll es ein Kulturfest geben, bei dem die Bewohner beider Einrichtungen erste Kontakte knüpfen können.
Viele Nachbarn waren fast schon übereifrig, so sehr wollen sie helfen
Das große Engagement und die Neugier der Harvestehuder gegenüber ihren neuen Nachbarn verkörpert vor allem die „Flüchtlingshilfe Harvestehude“. Trotz des zwischenzeitlich von Anwohnern erwirkten gerichtlichen Stopps der Umbaumaßnahmen in dem früheren Bundeswehrgebäude sei der Zulauf von Freiwilligen konstant geblieben, berichtet die Vorsitzende des Vereins, Hendrikje Blandow-Schlegel. „Zu unserer ersten Vollversammlung seit dem Einzug kamen wieder über 200 Leute, die Hälfte davon war komplett neu.“ Das seien alles Menschen aus der Nachbarschaft, die nun „endlich loslegen“ wollten. „Noch unterhalten wir uns viel mit Händen und Füßen. Aber das Bemühen der Flüchtlinge, hier anzukommen, war von Anfang an offensichtlich und rührend“, sagt Blandow-Schlegel.
Nach und nach werden nun die Angebote des Flüchtlingsvereins, unterteilt in zwölf verschiedene AGs, in den Alltag der Bewohner integriert. Seit dem Einzug aktiv ist zum Beispiel eine Teestube im Keller des Hauses, parallel dazu gibt es eine Kinderbetreuung. Mehr als 100 Mitglieder des Vereins sind an der Sophienterrasse 1a aktiv, der aufgrund des großen Andrangs von Helfern sogar ein eigenes Koordinierungsbüro in der Unterkunft eingerichtet hat.
Über die Hilfsbereitschaft, über die „positive Energie“ freut sich Heimleiterin Caroline Smolny natürlich. Gerade in den ersten Tagen musste die 58-Jährige den Eifer der zahlreichen Freiwilligen allerdings bremsen. „Schwierig war, dass alle Ehrenamtlichen am liebsten gleich reinwollten, um die monatelang geschmiedeten Pläne umzusetzen, die der Baustopp so lange verzögert hat. Auch das öffentliche Interesse hat einen großen Handlungsdruck erzeugt.“ Anfangs sei es jedoch vorrangig darum gegangen, die neuen Bewohner in Ruhe ankommen zu lassen, ihnen Zeit für Behördengänge und die Einrichtung in den ersten eigenen vier Wänden zu ermöglichen.
Das Wichtigste für die neuen Bewohner ist eine abschließbare Wohnungstür
Die viel zitierte Nähe zu Stadtvillen und Alsterufer sei angesichts der Zustände in den Erstaufnahmeeinrichtungen für die Flüchtlinge dagegen eher unbedeutend. „Die Menschen kommen aus Containerdörfern, die freuen sich vor allem über eine abschließbare Haustür. Für sie ist wichtig, dass dies ein festes Haus ist – und dass eine Bushaltestelle in der Nähe ist“, sagt Smolny.
Einen Anteil daran, dass der Einzug überhaupt noch stattfinden konnte, hat Michael Westenberger, CDU-Wahlkreisabgeordneter für Harvestehude. Auf seine Initiative hin habe Eimsbüttels Bezirksamtsleiter Torsten Sevecke nach monatelanger Auseinandersetzung mit Vertretern der Kläger im August vergangenen Jahres eine Einigung bezüglich Umfang und Zusammensetzung der Unterkunft erzielt.
Durch die enorme Hilfsbereitschaft im Stadtteil fühlt sich Westenberger in seiner Arbeit bestätigt: „Hier zeigt sich, dass in einer Einrichtung überschaubarer Größe, die von der Anwohnerschaft auch angenommen wird, die Integration der Bewohner aus der Mitte der Gesellschaft heraus erfolgen kann.“ Sein Eindruck sei, dass Neugier und Freude im Stadtteil um Längen höher seien als irgendwelche diffusen Ängste.
Sechs Monate nach der Kompromissfindung will der Bezirk nun den ursprünglichen Bebauungsplan, der eine weitaus größere Einrichtung vorsah, zu den Akten legen. Der mühsam verhandelte Kompromiss wäre damit rechtsgültig.
Während die Lokalpolitik mit den Klägern um diesen Kompromiss rang, machten Nesifa und Ali Musawi gerade ihre ersten Schritte in Deutschland. Nur wenige Wochen nach der Ankunft bekam das aus Afghanistan stammende Paar erstmals Nachwuchs – die ersten Wochen mit Sohn Mohamed waren in der Erstaufnahmestelle in der Harburger Poststraße besonders anstrengend für die junge Familie: „Die Enge, die fehlende Privatsphäre, der Zustand der Sanitäranlagen“, zählt die 28-jährige Mutter die Schwierigkeiten auf, die ihnen als jungen Eltern in der übervölkerten Einrichtung begegneten. Umso mehr wissen sie als neue Bewohner der Sophienterrasse ihre neue Bleibe zu schätzen. Zusammen mit einer Familie aus Syrien teilen sich die Musawis eine der 22 Wohneinheiten, zu denen jeweils eine Küche und ein Sanitärbereich gehören. „Uns gefällt es hier wirklich ausgezeichnet. Es ist etwas ganz anderes, in einer eigenen Wohnung leben zu können. Wir können uns viel besser um unser Kind kümmern und endlich auch unser Essen selbst kochen.“
Auch Caroline Smolnys erstes Zwischenfazit fällt positiv aus. „Es ist schön, dass so viele Leute ihre neuen Nachbarn hier empfangen haben und zukünftig begleiten wollen, das schafft Vertrauen nach einem Umzug in eine neue Umgebung.“
Nur ganz vereinzelt gab es Beschwerden – über zu laute Musik
Die bunt zusammengewürfelten Wohngemeinschaften funktionierten gut, Anwohner aus der unmittelbaren Nachbarschaft hätten die Ruhe gelobt. Zwar sei es vereinzelt auch schon zu Beschwerden gekommen, beispielsweise über zu laute Musik am Abend – dies sei jedoch eine normale Reaktion und beim Start von vergleichbaren Einrichtungen nicht anders.
„Die Menschen müssen das Wohnen hier überhaupt erst einmal lernen: Sie wussten nicht, dass in Deutschland schon um 22 Uhr Ruhe herrscht. Zudem war es in ihren vorherigen Unterkünften immer laut, sie kennen das nicht anders.“ Wichtig sei jetzt vor allem die Entwicklung, „dass aus Flüchtlingen Bewohner werden“.
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