Von Thomas Heyen

Moorfleet.
Wenn Tarkan Calisir (35) auf dem Dach des 70 000 Quadratmeter großen Lagerhauses der Spedition Fiege die Abflüsse und Lüftungsanlagen kontrolliert, kommt er sich vor wie im Urlaub. Der Haustechniker geht über Bodendecker und Heidekraut, umflogen von Möwen, von sehr vielen Möwen. Denn das Dach an der Amandus-Stubbe-Straße 10 in Moorfleet, umgeben von Autobahnen, Tankhof und großen Gewerbebetrieben, ist die bevorzugte Brutkolonie für Möwen in Hamburg.

Etwa 4000 Tiere - Herings-, Silber-, Schwarzkopf- und Sturmmöwen - halten sich im Frühjahr und Sommer dort auf, um ihren Nachwuchs auszubrüten und aufzuziehen. Schon seit Jahren ist das begrünte, 13,50 Meter hoch gelegene Fiege-Dach somit die mit Abstand größte Möwenkolonie der Stadt.

"Die Arbeit auf dem Dach ist aber nicht immer ein 'Urlaubsvergnügen', wenn Tausende Möwen auffliegen. Die Tiere wollen natürlich ihre Gelege verteidigen. Dabei gehen sie durchaus aggressiv vor. Sie fliegen auf einen zu, und wenn man nicht den Kopf einzieht, kann man schon mal ihren Schnabel zu spüren bekommen", sagt Calisir. Sein Chef, Niederlassungsleiter Stefan Küster (38), spricht von einer "Bomber-Taktik".

Deshalb lassen sich die Ornithologen, die den Möwenbestand in jedem Frühjahr erfassen, viel Zeit, damit die Tiere sich an die Eindringlinge gewöhnen können. "Sie haben unsere Kolonie vor fünf Jahren entdeckt und uns gesagt, dass sie etwas Besonderes sei", sagt Niederlassungsleiter Küster. Damals zählten die Biologen knapp 500 Brutpaare. "Dann sind es von Jahr zu Jahr mehr geworden", sagt Küster und fügt scherzend hinzu: "Es wäre traumhaft, wenn der Umsatz in dem gleichen Maße wachsen würde."

Die 165 Mitarbeiter würden sich, was die Brutkolonie über ihnen angeht, in zwei Lager spalten: "Die, die mit dem Fahrrad herkommen, erfreuen sich an den Vögeln, während die Autofahrer häufiger mal fluchen", berichtet der Niederlassungsleiter. Die Autofahrer haben oft eine Flasche Wasser dabei, um ihre Pkw vom Kot der Vögel zu befreien. Küster: "Meist wird versucht, außerhalb der Einflugschneise zu parken." In die Büros oder die Halle habe sich bisher allerdings noch nie eine Möwe verirrt.

Tatsächlich hat sich der 38-Jährige vorgenommen, für die Belegschaft "einen Deal mit einer der benachbarten Waschstraßen zu machen". Denn der Kot der Tiere sei ein Problem. "Wir zahlen für die Entfernung von den Fassaden, Dachrändern und Fenstern jedes Jahr eine hohe fünfstellige Summe - und das, obwohl bereits viele Arbeiten von uns erledigt werden", sagt Küster.

Das Logistikzentrum in Moorfleet entstand 2006, nachdem zwölf Lager in Hamburg und direkter Umgebung zusammengelegt worden waren. Weltweit sei das Lager in Moorfleet die einzige von 230 Fiege-Niederlassungen mit einer Möwenkolonie auf dem Dach. Das deutsche Unternehmen ist spezialisiert auf den Transport, die Kommissionierung und die Lagerung von Waren aller Art. In Moorfleet werden täglich 25 000 Autoreifen diverser Hersteller, Spirituosen, Kerzen, Autoteile und Textilien verladen. Von der Amandus-Stubbe-Straße 10 aus starten etwa 100 beladene Lkw am Tag zu Kunden in ganz Europa.

"Wir bekommen wegen der Möwen viele Presseanfragen", sagt Küster, der sich bemüht, alle Wünsche zu erfüllen. Nur als die Umweltbehörde "Bustouren für Ornithologen" nach Moorfleet geplant hatte, habe er abgelehnt. "Wir müssen uns ja 'nebenbei' auch um unsere Arbeit kümmern."

Wenn Küster im Sommer bei geöffnetem Fenster mit Kunden telefoniert, wird er immer mal wieder gefragt, ob er gerade am Meer sei. "So gesehen, ist die Möwenkolonie eine feine Sache. Sie gibt uns das Gefühl, am Meer zu sein."