Von Thomas Heyen

Kirchwerder/Sinn.
Das haben die Hamburger seit fast 100 Jahren nicht mehr erlebt: 2016 sollen wieder alle zehn Glocken der Hauptkirche St. Michaelis schlagen. Im Ersten Weltkrieg waren neun Glocken für die Produktion von Munition eingeschmolzen worden. Zwei fehlen bis heute. Die beiden neuen Uhren-Glocken sind gestern, Freitag, in der Gießerei Rincker in Sinn bei Wetzlar (Hessen) gegossen worden. Verantwortlich für Lieferung und Montage der insgesamt 2600 Kilogramm schweren Glocken ist das in Kirchwerder ansässige Unternehmen "W. Iversen, Dimier & Cie., Nachf. GmbH & Co. KG" - eine Tochterfirma der Gießerei.

"Nach dem Gießen müssen die Glocken etwa drei Wochen lang auskühlen, dann werden sie gesäubert und am 16. September zum Michel transportiert", sagt Nicola Timmann (44). Die "Iversen"-Mitarbeiterin ist derzeit in Sinn.

"Vater vergib" in mehreren Sprachen

In Hamburgs Wahrzeichen wird es am Sonntag, 27. September, ein Glockenfest geben, in dessen Verlauf die Bronze-Konstruktionen feierlich geweiht werden. Bereits nach der Ankunft am 16. September werden die neuen Glocken in der Kirche ausgestellt, können sie monatelang besichtigt werden. "Die Besucher haben die Möglichkeit, beim 'Glocken-Pilgern' die Inschriften zu lesen und einen Ton anzuschlagen", sagt Michel-Sprecherin Ines Lessing. Inschriften wie "Vater vergib" in mehreren Sprachen zieren die bronzenen Kunstwerke.

Die neuen Glocken kosten etwa 250 000 Euro. Weitere 100 000 Euro werden benötigt, weil die Tragfähigkeit der mehr als 100 Jahre alten Stahlträger im Michel-Turm nicht ausreicht. Die Kuppel muss deshalb verstärkt werden. Bei diversen Spendenaktionen kamen bisher mehr als 286 000 Euro zusammen.

Gearbeitet wird an den Glocken seit Mitte April. Unter anderem haben die "Iversen-Profis" den Kirchturm vermessen und die gewünschten Töne ermittelt. Dann begann die aufwendige Vorbereitung des Gießens in Sinn.

Bevor eine Glocke gegossen werden kann, muss eine Form aus drei Teilen hergestellt werden. Benötigt werden ein Kern, eine sogenannte "falsche Glocke" und ein Mantel. Für den Kern wird eine Schablone aus Holz ausgesägt, die um die eigene Achse rotiert und der aus Lehm erstellten Gussform ihre Konturen gibt. Die grobe Glockenform, der Kern, wird mit Ziegeln gemauert. Dazu werden Lehmschichten aufgetragen und mit der Schablone abgestrichen.

Die "falsche Glocke" entspricht in Umfang und Aussehen der späteren Bronzeglocke, besteht aus Lehm und Talg. Vor dem Gießen wird die "falsche Glocke" entfernt. Zwischen Kern und Mantel ergibt sich dann der Hohlraum für die Bronzeglocke.

In diesen Hohlraum strömte gestern - unter den Augen zahlreicher Schaulustiger, die eifrig Fotos machten - die flüssige Legierung. Die Glockengießer leiteten die etwa 1100 Grad heiße Glockenspeise durch Kanäle und ein Gussloch in die Form. Zuvor war die Grube, in der die Glockenformen standen, mit Erde verfüllt worden. Sonst könnte die Form den beim Gießen entstehenden Druck kaum aushalten.

Voraussichtlich im März 2016 werden die "Iversen"-Spezialisten die schweren Glocken in 120 Metern Höhe montieren. "Der genaue Termin hängt allerdings von weiteren Spenden-Eingängen ab", sagt Ines Lessing. Denn erst wenn die Finanzierung gesichert ist, könne mit der Verstärkung der Kuppel begonnen werden. Lessing: "Außerdem wollen wir den Turm erst nach Ende der Hauptsaison für die Öffentlichkeit schließen."