Kirchwerder
(ld).
Nur noch zehn Dinge halten sie in den Händen, die ihnen wichtig sind. Alles andere, selbst die liebsten Freunde oder Haustiere, müssen sie zurücklassen. Nun müssen sie aus ihrem allerletzten Hab und Gut noch weitere Dinge aussortieren, die sie aufgeben müssen. Spätestens als sie nur noch vier Sachen vor sich sehen, fällt es den Sechstklässlern der Stadtteilschule Kirchwerder sichtlich schwer, sich zu entscheiden. Sie verziehen das Gesicht, atmen schwer aus und schütteln den Kopf.

Dieser Moment soll ihnen verdeutlichen, wie es vielen Flüchtlingen geht, die ihre Heimat verlassen und alles Liebgewonnene zurücklassen müssen. Am Ende zeigt sich ein eindeutiges Bild: Auf Kuscheltiere, Fußbälle und Fotos möchte kaum einer der Sechstklässler verzichten. "Erinnerungen mitzunehmen, wäre mir besonders wichtig", sagt Fabienne (12).

Das Rollenspiel war eins von vielen Projekten, die gestern beim Infotag an der Stadtteilschule Kirchwerder den Unterricht bestimmten. Mit dem Thema Flüchtlinge gab es zuvor im Schulalltag nur wenig Berührung: "Nur eine Handvoll Schüler sind bisher aus multinationalen Vorbereitungsklassen zu uns gekommen", sagt Michael Wendt, stellvertretender Schulleiter. Als dann im März in rund vier Kilometer Entfernung zur Schule Container für die Zentrale Erstaufnahme in Zollenspieker aufgebaut wurden, hätten Schüler auch Ängste und Bedenken geäußert. "Das wollten wir nicht so unkommentiert stehen lassen", sagt Michael Wendt. In knapp vier Wochen stellte das Kollegium ein abwechslungsreiches Programm auf die Beine, um bei den rund 1050 Schülern Vorurteile abzubauen, erfahrbar zu machen, welch unvorstellbare Dinge Menschen auf ihrer Flucht erleben müssen und Sekundärtugenden zu vermitteln: "Es zählen nicht nur Pünktlichkeit und Ordentlichkeit. Auch Toleranz, Offenheit und Kommunikationsvermögen sind wichtig", sagt Wendt.

Die Schüler begegneten dem Thema Flucht auf vielen Wegen: von Theaterstück, über Rollenspiel bis Diskussionen oder Einbürgerungstest. "Die Fragen sind ganz schön schwer", sagt die 16-jährige Mascha Petrick. Geschichtliche Details zur Frankfurter Nationalversammlung, dem Ende der ersten deutschen Republik oder die Definition des Begriffs "Reformation" brachten die Elftklässler ins Grübeln. "Warum muss man das unbedingt wissen, wenn man die deutsche Staatsbürgerschaft haben möchte?", fragt Jana Pflüger. Viel wichtiger sei es, über die Kultur Bescheid zu wissen, Arbeit zu finden und die Kinder zur Schule zu schicken.

In den vergangenen Wochen wurde in der Nachbarschaft viel über Flüchtlinge gesprochen: "Mich hat schockiert, wie viele Jugendliche Vorurteile mit sich tragen", sagt Ronja Lentfer (16). Die einen hätten Angst, dass sie ihr Fahrrad nicht mehr draußen stehen lassen können, andere meinen, Zuwanderer machen die deutsche Kultur kaputt. "Das ist Unsinn. Für uns gibt es nicht die eine deutsche Kultur. Es gab schon häufig einen Wandel, durch die die Kultur weiterentwickelt wurde. So kamen schließlich auch einst Pizza und Döner zu uns", sagt Ronja Lentfer.

Michael Wendt hofft, dass der Infotag nachhaltig wirkt: "Wir hoffen, dass die jungen Menschen ihre Eindrücke nach außen tragen und weitere Diskussionsprozesse bei Freunden oder Eltern in Gang setzten. Schließlich haben die Erwachsenen nicht immer den Stein der Weisen in der Tasche".