Curslack. Ein Leben gleicht einem Mosaik, das sich aus zahlreichen Steinchen zu einem Bild zusammensetzt.

Die einzelnen Bausteine unterscheiden sich in Größe, Anzahl und Farbe. So entstehen Milliarden einmalige Bilder, genauso wie es Milliarden Individuen gibt. Die Allgemeinmedizinerin Dr. Ute Harte von der Gemeinschaftspraxis am Curslacker Heerweg stieß im Laufe ihres Berufslebens immer wieder auf einen Baustein, der vor allem die Kindheit und Jugend ihrer älteren Patienten prägte. Sie waren an Tuberkulose (TBC) erkrankt - genauso wie die 59-jährige Ärztin.

Für die Kinder und Jugendlichen bedeutete die Infektion mit der hoch ansteckenden Krankheit wochen-, monate-, wenn nicht gar jahrelange Aufenthalte in Lungenheilanstalten. Hamburger kamen in ein Ausweichkrankenhaus nach Wintermoor, das die Hansestadt 1943 in Betrieb genommen hatte. An der Bundesstraße 3 zwischen Buchholz und Schneverdingen gelegen, sollte es während des Krieges in sicherer Entfernung von der Stadt Patienten aus Hamburg aufnehmen. Ab 1947 wurden hier vor allem TBC-Kranke behandelt.

Ansteckungsherd Nummer eins für die bakterielle Infektion der Lunge war zur damaligen Zeit die Kuhmilch. Heute wird sie so streng kontrolliert wie kaum ein anderes Lebensmittel. Aber noch vor 50 Jahren tummelten sich jede Menge Bakterien in der Milch - unter anderem das Mycobacterium tuberculosis. Die Altengammerin Irmgard Kaven (76) infizierte sich im Alter von 13 Jahren durch Kuhmilch mit Tuberkelbakterien, Barbara-Anne Schwarz (59), die in Hamburg aufwuchs und heute in Vierlanden lebt, mit neun Jahren. Ute Harte, die in Gemmingen bei Heilbronn ihre Kindheit und Jugend verbrachte und bevorzugt auf dem Bauernhof ihres Onkels spielte, erkrankte bereits mit fünf Jahren. Die Symptome: starker Gewichtsverlust, Schweißausbrüche und Husten. Da es bis Anfang der 1960er-Jahre kein Antibiotikum gegen Tuberkulose gab, kamen die Erkrankten in Quarantäne: Irmgard Kaven und Barbara-Anne Schwarz nach Wintermoor, Ute Harte in eine Lungenheilanstalt in Königsfeld im Schwarzwald.

Obwohl Ute Harte erst fünf Jahre alt war, erinnert sie sich an viele "schreckliche" Details ihres achtwöchigen Klinikaufenthaltes: "Ich hatte natürlich wahnsinnig Heimweh", erzählt die 59-Jährige rückblickend. Ihre Eltern durften sie nicht besuchen, schickten ihr aber Päckchen, die sie jedoch nicht erreichten. Denn deren Inhalte wurden an alle Kinder verteilt. "Immer wenn ein 'Reader's Digest' unter den Geschenken war, hab' ich besonders gelitten", sagt sie. "Weil ich wusste, dass es von meinen Eltern ist und sie an mich denken." Nachts wurden die Kinder an Händen und Füßen angebunden, mussten sich im Bett mit dem Gesicht zur Wand drehen und durften nicht sprechen. Die Folgen spürt Ute Harte bis heute: "Wenn mich jemand festhält - das geht gar nicht", sagt sie. Rückblickend resümiert die Ärztin: "Alles, was Lebendigkeit bedeutet, hat man uns ausgetrieben."

Ganz so düster sind die Erinnerungen von Barbara-Anne Schwarz an Wintermoor nicht. Sie wurde 1962 eingewiesen und verbrachte dort elf Monate - davon acht gemeinsam mit ihrer Mutter, die ebenfalls an TBC erkrankt war. Kontakt zwischen Mutter und Tochter gab es aber keinen. "Ich wollte dort nicht hin", erinnert sich Barbara-Anne Schwarz. Ihre Großmutter, die sie nach Wintermoor begleitet hatte, versuchte, ihr den Aufenthalt schmackhaft zu machen: "Das ist ein ganz tolles Heim", sagte sie. Und beim Anblick des zweiten Bettes in dem Zimmer: "Morgen kommt bestimmt noch ein weiteres Kind." Doch die Neunjährige blieb wochenlang isoliert. Ihr wurde ein Magenschlauch eingeführt, um das schleimige Sekret zu entfernen. "Die erste Zeit hab' ich schlecht geschlafen", sagt sie. "Ich hatte Angst vor dem nächsten Tag." Aber sie erinnert sich auch an "herrliches Vogelgezwitscher", wenn der Tag dämmerte. "Noch heute denke ich bei Vogelgesang an Wintermoor", sagt sie.

Am schlimmsten litt Irmgard Kaven an der Krankheit. Bei ihr waren beide Lungenflügel befallen. Die 13-jährige Altengammerin verbrachte erst drei Monate im Krankenhaus Heidberg und wurde 1949 für zwei Jahre und drei Monate nach Wintermoor geschickt. Ein Jahr lang durfte sie das Bett nicht verlassen. Zudem blieb auch ihr der Magenschlauch nicht erspart und es wurden Nadeln eingeführt, um ein Kollabieren der Lunge zu verhindern. Zwar reisten Mutter und Schwester jeden Sonntag mit dem Bus an, um sie zu besuchen, "aber die beiden mussten draußen vor dem Fenster der Baracke stehen", erzählt Irmgard Kaven.

Mit Grauen erinnern sich die drei Frauen an die Liegekuren an der frischen Luft, die den Kranken neben fettem Essen verordnet wurden. "Morgens drei Stunden, nachmittags zwei Stunden, in viele Decken gehüllt und natürlich nicht in der Sonne", sagt Barbara-Anne Schwarz. Irmgard Kaven, die diese Prozeduren viel länger erdulden musste, kann ihnen heute auch etwas Positives abgewinnen. "Ich habe später auf der Terrasse viel Radio gehört und gelesen, gelesen, gelesen." Rückblickend ist die 76-Jährige froh, dass sie die schwere Krankheit überlebt hat. Das habe sie auch der liebevollen Unterstützung ihres späteren Mannes Friedus zu verdanken, sagt sie.

Drei Frauen mit einem vermeintlich gleichen Baustein in ihrem Mosaik des Lebens und trotzdem unterscheiden sich die Steine gewaltig.

Übrigens: Heutzutage gibt es drei Antibiotika gegen TBC, die quasi als besiegt galt. Doch mittlerweile breitet sich die Krankheit in Osteuropa wieder aus, in Afrika tritt sie zunehmend als Kombination aus Aids und TBC auf.