Lauenburg. Lauenburger SV und TSV Bargteheide liefern sich denkwürdiges Spitzenspiel in der Schleswig-Holstein-Liga mit verblüffendem Ausgang.

Gedankenschnell macht Lilly Lötje einen Schritt in Richtung Feldmitte. Auch kurz vor Ende des Spitzenspiels der Schleswig-Holstein-Liga bei der Lauenburger SV ist die Handballerin des TSV Bargteheide noch hellwach im Kopf, hat clever vorausgeahnt, wohin der lange Pass aus der LSV-Abwehr für den Tempogegenstoß kommen würde. Jetzt ist sie da und schnappt sich den Ball. Das muss es sein! Das muss der Sieg sein! Denn jetzt, 200 Sekunden vor Schluss, liegen endgültig alle Trümpfe bei den Gästen aus Bargteheide.

Sie führen mit 28:27. Sie haben gerade die kritischste Phase der Partie mit zwei Spielerinnen in Unterzahl überstanden und liegen immer noch vorn. Und sie sind – Lilly Lötje sei Dank – nun auch wieder in Ballbesitz, können weitere Zeit von der Uhr herunterspielen. Was soll jetzt noch passieren? Doch was die 19-Jährige und ihre Teamkolleginnen nicht ahnen: Die verrücktesten 200 Sekunden dieses Spiels, ja der gesamten Saison, haben gerade erst begonnen. Und an deren Ende werden sie mit einer 28:29-Niederlage zurück nach Stormarn fahren müssen und sich fragen, wie das passieren konnte.

Lauenburger SV und TSV Bargteheide liefern sich denkwürdiges Spitzenspiel

Für die Handballerinnen der Lauenburger SV ist es ein Albtraum, der wahr zu werden scheint, als Lilly Lötje zupackt. Überzahl weg, Ballbesitz weg, immer noch in Rückstand und fast keine Zeit mehr auf der Uhr. Wie konnte das passieren? Als klare Favoritinnen waren die Elbdiven gegen die Youngster aus Bargteheide ins Spiel gegangen, wenn auch stark ersatzgeschwächt. Stammtorhüterin Lena Gansor-Kaatz, die elegante Lena Hadeler sowie Wirbelwind Sabrina Reimers, teils wegen Verletzungen, teils wegen Urlaub nicht da. „Uns fehlen 45 Jahre Oberliga-Erfahrung“, klagt LSV-Teammanager Arne Bahde wenig charmant.

Die Lauenburgerinnen um Torhüterin Kaja Bania-Gorwa (in Grün) bejubeln ihren knappen Erfolg.
Die Lauenburgerinnen um Torhüterin Kaja Bania-Gorwa (in Grün) bejubeln ihren knappen Erfolg. © Volker Koch | Volker Koch Hamburg:

Aber klar: Es ist das Duell „Alt gegen Jung“, wie es immer so unhöflich im Sport heißt. Bei 19 Jahren liegt das Durchschnittsalter der Tigers aus Bargteheide, während bei den Lauenburgerinnen die Altersspanne von 18 bis Mitte 30 reicht. Viele im LSV-Team haben Oberliga-Erfahrung, spielen nun schon seit Jahren in der Spitzengruppe der Schleswig-Holstein-Liga mit. Und so haben die routinierten Elbdiven an diesem Abend für die Gäste aus Stormarn eine Lehre parat: Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist!

Die flinken Hände der Joelle Gümüsdere bringen die Wende

Lilly Lötje kann ihr Glück kaum fassen, als sie den gegnerischen Pass abfängt. Etwas verloren bleibt sie stehen, den Ball in der Hand, während hinter ihr die Torhüterin Emily Hutschreuther aus dem Kasten kommt, um mit ihr zu jubeln. Was beide vergessen haben: Das Spiel läuft noch! Die flinke LSV-Spielmacherin Joelle Gümüsdere, der der Pass eigentlich gegolten hatte, ist sofort da, luchst Lötje den Ball ab und sieht, als sie den Kopf hebt, verblüfft, dass das gegnerische Tor leer ist. Widerstandslos wirft die 21-Jährige zum 28:28 ein, kann nicht fassen, wie leicht das geht.

Mehr vom Lokalsport

Auf der TSV-Bank flippen sie jetzt aus, holen sich eine Verwarnung des Schiedsrichter-Gespanns ab und können doch den Trend nicht mehr umkehren. Zum ersten Mal ist der Gedanke an eine mögliche Niederlage in den Köpfen der Bargteheider Spielerinnen, die nun keinen Angriff mehr vernünftig zu Ende bringen. Ganz anders bei den Gastgeberinnen. Mit jeder Sekunde werden die Elbdiven, die das ganze Spiel über einem Rückstand hinterhergelaufen sind, mutiger.

Lauenburgs Küken Lisa Borchers gelingt der entscheidende Treffer

Die Halle ist längst ein Tollhaus. Beide Fangruppen unter den rund 250 Zuschauern haben Trommeln mit, mit denen sie das ganze Spiel über beide Mannschaften unentwegt angefeuert haben. Die Partie des Tabellenzweiten Lauenburg gegen den Vierten Bargteheide ist eine Werbung für den Handballsport. Lisa Borchers, mit 18 Jahren auch eines der Küken im LSV-Kader, fasst sich schließlich ein Herz und wirft zum 29:28-Erfolg der Lauenburgerinnen ein.

Beim Bargteheider Coach Andreas Frank legt sich die anfängliche Enttäuschung schnell. Zufriedenheit darüber macht sich breit, was für ein tolles Spiel seine Mannschaft gezeigt hat. „Dieses Team kennt es ja fast nur, zu gewinnen“, blickt er auf die Jugendjahre und den Landesliga-Aufstieg zurück. „So kann man verlieren. Wir sind es halt einfach noch nicht gewohnt, über volle 60 Minuten dagegen halten zu müssen. Man darf nicht vergessen, wie jung diese Mannschaft ist.“

Die Youngster vom TSV Bargteheide sehen lange wie die sicheren Sieger aus

Mit jugendlicher Unbekümmertheit hatten die TSV-Damen aufgespielt und sich in der ersten Hälfte über eine 7:2-Führung auf 10:4 abgesetzt, um schließlich einen 15:12-Vorsprung in die Halbzeitpause zu retten. Vor allem das fantastische Trio Saskia Sankowski, Marie König und Sina Eichholz war kaum zu halten. „Die Basis unseres Erfolgs war aber die Abwehr“, analysierte TSV-Kreisläuferin Sina Hallmann. „Wir haben sehr gut die Bälle fest gemacht und so das Spiel unter Kontrolle bekommen.“

Wer möchte sich schon in den Weg stellen, wenn Lauenburgs Sarah Lemmermann (am Ball) Fahrt aufnimmt? Die Bargteheiderinnen (v.l.) Sina Hallmann, Karoline Koch und Finnja Samain halten jedenfalls lieber Abstand.
Wer möchte sich schon in den Weg stellen, wenn Lauenburgs Sarah Lemmermann (am Ball) Fahrt aufnimmt? Die Bargteheiderinnen (v.l.) Sina Hallmann, Karoline Koch und Finnja Samain halten jedenfalls lieber Abstand. © Volker Koch | Volker Koch Hamburg:

Wer nun mit einem Donnerwetter in der Lauenburger Kabine gerechnet hatte, sah sich getäuscht. Still war es, und nach nur vier Minuten schickte LSV-Coach Daniel Schwarz seine Damen bereits wieder zurück aufs Feld. „In den Pausen sage ich nie sehr viel“, verriet er. „Als Spieler habe ich auch immer fast nichts davon aufgenommen, was in den Pausen gesagt wurde.“

Zwei Zeitstrafen in 15 Minuten? – Das kann Sarah Lemmermann nicht stoppen

Auf dem Feld war es nun vor allem Sarah Lemmermann, die das Heft des Handelns an sich riss. Ausgerechnet Abwehrchefin „Lemmi“, der Fels in der Brandung, hatte sich schon nach einer Viertelstunde zwei Zeitstrafen eingehandelt („Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte“) und durfte fortan nur noch im Angriff aufs Feld. Mit grimmiger Entschlossenheit nahm sich die 36-Jährige nun jeden sich bietenden Wurf, verwarf manches, aber traf eben auch vieles.

Die Energie Lemmermanns übertrug sich nach und nach auf ihre Mitspielerinnen, vor allem auf Joelle Gümüsdere, an diesem Abend die beste Spielerin in der Halle. Was die 21-Jährige für ein Pensum abarbeitete, war unglaublich. Sie schien buchstäblich überall zu sein und wurde nicht zufällig zu einer der Heldinnen dieses Spiels. „Das war ein Sieg des Willens. Die Mädels haben einen unfassbaren Charakter gezeigt“, sprach Lemmermann sicherlich vielen auf Lauenburger Seite aus der Seele.

Den Sieg feierten die Elbdiven mit einem Besuch im Schiffshebewerk

Ihren Sieg feierten die Elbdiven am Tag danach mit einem Besuch im Schiffshebewerk Scharnebeck, wo sie zunächst gemeinsam eine Führung mitmachten, bevor sie sich gemütlich zusammensetzten. Und wer weiß: Bei einem Schiffshebewerk geht es ja auch darum, eine höhere Ebene zu erreichen. Vielleicht hat das ja Symbolkraft für die Aufstiegshoffnungen der Lauenburgerinnen.

LSV-Tore: Joelle Gümüsdere (7), Sarah Lemmermann (7/2), Lena Bahde (6), Svea Böge, Lisa Borchers (je 3), Anna Marcela Krajewski (2), Talia Gümüsdere (1). TSV-Tore: Sina Eichholz (8/2), Saskia Sankowski (5), Marie König (4), Karoline Koch (4/4), Solveig Korth (3), Lilly Lötje, Sina Hallmann (je 2).