Von Konrad Brandstäter

Reinbek.
Hans-Dieter Gerber traute seinen Augen kaum. Kein Wunder, hatte der Radfahrer aus Reinbek doch seit Tagen kaum geschlafen. "Ich fuhr an einer Telefonzelle vorbei. Und da stand jemand drin und schlief", erzählt Gerber lachend. Skurrile Szenen wie diese lassen erahnen, welcher Tortur die Teilnehmer des 1200 Kilometer langen Radrennens Paris-Brest-Paris ausgesetzt sind.

Die Beine fühlen sich an wie Blei, der kalte Fahrtwind pfeift um die Ohren und vor Müdigkeit lassen sich die Augen kaum noch offenhalten. Es gibt angenehmere Szenarien, den Sommer in Frankreich zu verbringen. Und doch begeben sich vom 16. bis 20. August wieder an die 6000 Radfahrer aus aller Welt auf den Weg, um von Paris nach Brest und wieder zurück zu strampeln. Gerber ist dann erneut einer von ihnen.

Die Faszination, die das Langstreckenrennen (französisch: "Brevet") ausmacht, beschreibt der pensionierte Tierarzt so: "Es geht darum, über seine Grenzen zu gehen und den inneren Schweinehund zu überwinden." Die Distanz, die bei der Tour de France für sechs lange Etappen reichen würde, absolvieren die "Randonneure", wie die Teilnehmer dieses Rennens genannt werden, bei Paris-Brest-Paris am Stück.

Es ist das älteste Radrennen der Welt, 1891 startete es zum ersten Mal. Inzwischen wird der Radmarathon im Vier-Jahres-Rhythmus ausgetragen. Viele der Fahrer werden bis zu 90 Stunden im Sattel sitzen - der maximal erlaubten Obergrenze. Alternativ kann man sich 84 oder 80 Stunden als Ziel setzen. Wer es innerhalb der anvisierten Zeit schafft, hat den "Brevet" bezwungen. Einen offiziellen Sieger gibt es nicht.

Gerber benötigte bei seiner ersten Teilnahme vor acht Jahren 68, vier Jahre später 62 Stunden. Nun möchte der Wahl-Reinbeker die 60-Stunden-Marke knacken. Sein Plan: "Die ersten 600 Kilometer will ich ohne Pause durchfahren. Auf dem Rückweg mache ich dann kleine Powernappings von zehn Minuten. Danach bin ich wieder fit."

Die früher oder später aufkommende Müdigkeit stellt das größte Problem der Tortur dar. Je länger man nicht geschlafen hat, desto unkonzentrierter wird man. Nachts ist das Sturzrisiko besonders hoch. Wer es gar nicht mehr aushält, für den gibt es an den Kontrollstellen Schlafmöglichkeiten. Schließlich soll niemand in der Telefonzelle übernachten müssen.

Um sich für das Spektakel zu qualifizieren, müssen die Fahrer vorab vier Rennen mit ansteigender Streckenlänge in einer vorgegebenen Zeit absolvieren - das längste davon über 600 Kilometer. Für Gerber und seine siebenköpfige Trainingsgruppe, deren Mitglieder alle aus der Region stammen, bedeutete das einen Tagesausflug von Hamburg auf den Brocken und zurück in 25 Stunden. Und das bei Regen sowie zeitweilig nur einem Grad Celsius. Doch die Schinderei hat sich gelohnt.

Zweifel am Gelingen seines Vorhabens hegt der 63-Jährige nicht. "Die Möglichkeit des Scheiterns existiert in meinem Kopf nicht, sonst hätte ich schon vor dem Start verloren." Entscheidend bei diesem Höllenritt ist die mentale Stärke. Die meisten Teilnehmer sind zwischen 35 und 50 Jahre alt, Jüngere sucht man meist vergebens. "Die sind zu weich und wissen noch gar nicht, was der Körper zu leisten im Stande ist", erzählt Gerber.

Und worauf freut sich ein Radfahrer, der gerade 1200 Kilometer fast ohne Schlaf zurückgelegt hat, am meisten nach der Zieldurchfahrt? Ein Bett? Eine Dusche? Nein. "Ein kaltes Bier und eine Bockwurst!", sagt Gerber wie aus der Pistole geschossen.

"Die ersten 600 Kilometer will ich ohne Pause durchfahren." Hans-Dieter Gerber (63), über seinen Rennplan