Schafe im öffentlichen Dienst, ein Tresen mit Erinnerungen. Und zum Trubel der Stadt ist es nur ein Katzensprung

Am Himmel, der sich weit über Wiese, Deich und Strom spannt, schweben Schäfchenwolken bis zum Horizont, hingetupft in zartem Weiß auf lichthellem Blau. Und unten auf dem Deich weidet eine bodenständige Schafherde im Auftrag der Freien und Hansestadt Hamburg. Rapps, rapps, rapps: Es ist ein merkwürdiges, aber sehr beruhigendes Geräusch, wenn mehr als 100 Schafe nichts anderes tun, als einträchtig Gras zu zupfen und es gleich darauf schmatzend zu verzehren.

Aber so idyllisch es auch anmutet, die Schafe sind im Dienst. Sie betreiben unter Aufsicht des Landesbetriebes Straßen, Brücken und Gewässer aktiven Deichschutz, indem sie den Spadenländer Hauptdeich beweiden, das Gras kurz halten und den Boden durch ihr Getrappel festtreten.

Stadt und Land, die Begriffe scheinen hier zu verschwimmen, und wer es nicht weiß, wird kaum auf die Idee kommen, dass es sich bei der ländlichen Idylle von Spadenland keineswegs um ein Dorf, sondern um einen Hamburger Stadtteil handelt. Und das im Prinzip schon seit dem Jahr 1395, als die Hansestadt das Gebiet zur Sicherung von Handel und Schifffahrt erworben hat.

Tomaten und Gurken vom Erzeuger

Gewächshäuser bestimmen heute das Bild, denn auf dem fruchtbaren Marschland wird seit Generationen vor allem Gemüse angebaut. Kaufen kann man Tomaten, Gurken oder Kohlrabi in einem der Hofläden, etwa bei der alteingesessenen Familie Rolffs am Spadenländer Hauptdeich. Geprägt wird das Ortsbild von ein paar schmucklosen Gebäuden aus den 60er- und 70er-Jahren, aber man findet auch alte Bauernhäuser mit Reetdach, die von ansprechenden Gärten umgeben sind und manchmal von knorrigen Kopfweiden vor dem Wind geschützt werden. Der weht hier oft heftig und kriecht jenen, die auf dem Deich unterwegs sind, im Winterhalbjahr unbarmherzig unter die Kleider.

"Man lebt hier ruhig und scheinbar abgelegen, aber das täuscht, denn die Innenstadt ist gar nicht weit entfernt. Wenn es gut geht, braucht man mit dem Auto eine Viertelstunde, mehr nicht", meint Simone Vollstädt, deren Haus zwar nicht direkt in Spadenland steht, sondern schon in Ochsenwerder, aber so dicht an der Grenze, dass das kaum eine Rolle spielt.

Überhaupt haben Spadenland und Ochsenwerder schon immer viel miteinander zu tun. Simone Vollstädt ist gelernte Vermessungstechnikerin und arbeitet heute als Mediengestalterin in Hamburg. Sie hat aber lange über die Geschichte von Orten wie Spadenland, Ochsenwerder, Tatenberg und Moorwerder geforscht und mehrere heimatkundliche Bücher geschrieben, in denen sie Geschichte erzählt und manchmal auch Geschichten. Zum Beispiel Geschichten über Häuser, die hier am Deich stehen, wie das Haus, in dem ein Gerber im 19. Jahrhundert die weit über Hamburg hinaus bekannte Firma Leder-Schüler gegründet hat. "Spadenland ist von Ochsenwerder aus bedeicht und besiedelt worden", erklärt die Autorin: "Aber zunächst durften dort keine Häuser erbaut werden. Die Äcker und Wiesen wurden von Bauern aus Ochsenwerder bewirtschaftet, die das Land den Gezeiten entzogen hatten." Auch später, als es in Spadenland längst Bauernhöfe gab, blieb die Verbindung zu Ochsenwerder eng, denn hier gingen die Kinder zur Schule, und jeden Sonntag machten sich die Familien auf den Weg zum Kirchgang in die schmucke Ochsenwerder St.-Pankratius-Kirche.

Bricht der Deich, ist alles dahin

Wie Spadenland zu seinem Namen kam, darauf weiß Simone Vollstädt mehr als eine Antwort. "Es gibt zwei Theorien: Entweder bezieht sich der Name auf das Deichrecht, nach dem jeder Anlieger entsprechend seiner Besitzgröße zu Deichbau und Deichpflege verpflichtet war. Kam er dieser Pflicht nicht nach, wurde er bestraft, im Extremfall steckte man ihm einen Spaten in sein Deichstück, was einer Enteignung gleichkam", erklärt sie. Ihre zweite Theorie klingt weit weniger dramatisch. Demnach bezeichnet Spadenland einfach jenes Land, das seinerzeit zum Deichbau und zur Reparatur der Deiche "ausgespatet" wurde.

Tatsache bleibt, dass die Menschen hier seit Generationen im Bewusstsein einer latenten Gefahr leben: Der Deich darf nicht brechen, sonst ist alles dahin.

Im Februar 1962, als Hamburg von einer verheerenden Sturmflut heimgesucht wurde, haben die Deiche zumindest hier gehalten. Aber es war sehr knapp, wie sich viele ältere Bewohner erinnern, und anschließend musste gehandelt werden. Um weitere Katastrophen zu verhindern, wurde die Deichlinie Mitte der 1960er-Jahre nach hinten verlegt und auch später immer wieder ausgebaut. Dadurch entstand an der Spadenländer Spitze eine Auenlandschaft, die sich zu einem Biotop für bedrohte Pflanzen und Tiere entwickelte.

Die Wiege der Liedertafel Melodia

Jeder im Ort weiß, dass man sich im Ernstfall zum Beispiel an der Bushaltestelle Spadenländer Elbdeich trifft, die als "Sammelstelle bei Sturmflut" ausgewiesen ist. Die Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr, die schon seit 1893 besteht, werden ein paar Hundert Meter weiter zur Feuerwache und zum "Depot Deichverteidigung" eilen, denn dort stehen Tausende gefüllte Sandsäcke bereit, mit denen sich ein gefährdeter Deichabschnitt verstärken lässt.

Bei der Deichverlegung mussten viele alte Häuser abgerissen werden, darunter auch Stimmann's Gasthof, eine Institution, die als Ausflugsgaststätte einen guten Ruf besaß. Hier hatten sich am 1. Oktober 1887 einige sangesfreudige Männer getroffen und die Liedertafel Melodia gegründet, die sich 1991 mit dem Ochsenwerder Gesangsverein Frohsinn von 1890 zusammenschloss.

Einheimische und Ausflügler treffen sich gern im Restaurant Zum goldenen Kringel, dessen Name an eine früher an der gegenüberliegenden Straßenseite bestehende Bäckerei erinnert. Die Architektur der 1976 errichteten Gaststätte ist zwar nicht preisverdächtig, hat aber einen großen Vorteil: Von der verglasten Fensterfront bietet sich ein vorzüglicher Blick über die Deiche hinweg auf die träge dahinfließende Norderelbe und die Auenlandschaft.

Fußball gucken im Manneletti

Aber es gibt noch einen anderen, eher privaten Treffpunkt im Stadtteil, der besonders bei Fußballfans beliebt ist: Die verabreden sich im Manneletti bei Manfred Witthöft. Der Besitzer der Firma Witthöfts Küchentechnik hat dem letzten Tresen der legendären Disco Capeletti aus Kirchwerder eine neue Heimat gegeben. Das 1955 am Elbdeich eröffnete Tanzlokal, das in den 70er-Jahren zu einer sehr beliebten Diskothek mutierte, wurde 2002 geschlossen und abgerissen. Bis auf den zünftigen Schanktisch, den sich Manfred Witthöft schenken ließ und in seine Lagerhalle an der Ochsenwerder Landstraße versetzt hat. Dort ist der Tresen im Manneletti inzwischen Kult, sowohl bei manchen älteren Spadenländern, die sich wehmütig an durchtanzte Nächte im einstigen Capeletti erinnern, vor allem aber bei jungen Leuten.

Die sitzen hier gern, um bei einem Bier gemeinsam Fußball zu gucken. Oder sie klönen bis tief in die Nacht, schmieden Pläne und zeigen, dass man in Spadenland mehr machen kann, als die Schäfchen auf dem Deich zu zählen.

In der nächsten Folge am 8.9.: Hoheluft-West

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