"Die Uhr ohne Zeiger"

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Montag

Die Uhr auf dem Bahnsteig hat keine Zeiger. Gerüste. Betonsegmente. Der Wind weht Baustaub durch die Bahnhofshalle. - Intercity nach Köln. Dann umsteigen. Es ist Mai. Ich denke an Karla, die Schöne. Benny ist voller Erwartungen. Vor uns sieben Tage Amsterdam.

Nach der Ankunft Streifzug durchs Viertel. Dann ins Café. Kopfstand, erfahren wir, heißt die Verbindung von Bier und Genever, an der Benny Geschmack findet. Ich trinke Koffie verkeerd, Milch mit Kaffee.

Dienstag

Nach dem Bilderrausch im Van-Gogh-Museum sitzen wir in einem Arbeitercafé. Die miese Kopie des Mannes im Goldhelm im barocken Gipsrahmen ist von einer bunt blinkenden Weihnachtslichterkette umrahmt. Rembrandt dreihundertfünfzig Jahre später. Mit einem Euro zwanzig mein billigster Koffie verkeerd in Amsterdam.

Sexshow im Moulin Rouge. Beim Heimweg durchs Rotlichtviertel setzt sich die Kälte in unsere Hautporen. Sehnsucht nach Karla.

Mittwoch

Bei der Grachtenfahrt erfahren wir, dass einmal pro Woche ein Auto ins Wasser fällt. Ein alter Turm am Ufer. Der Dumme Jakob erhielt seinen Spitznamen, weil seine Turmuhr in den vergangenen Jahrhunderten immer falsch ging. Die scheinbare Realität gemessener Zeit.

Karla, die Erfolgreiche. Arbeitet siebzig Stunden die Woche. Und mehr. Ihre immer willkommene Ausrede. Nie hat sie Zeit.

Donnerstag

Am frühen Abend Bummel durch den Vondelpark. Wir schauen den Frauen nach. "Es gibt noch Mädchen mit langen Haaren", sagt Benny. "Hatte auch mal eine. Früh eine Stunde und abends eine Stunde, bis die trocken sind, nach dem Waschen. Nie wieder eine mit langen Haaren." Wir setzen uns in eine Gartenkneipe. Das Gebäude sieht aus wie ein Ufo. Benny gibt die Zeit inzwischen in Genever an. Achtzehn Uhr ist zwei Genever, denn er beginnt Nachmittags um vier. Inzwischen hat sein Tag sechs Genever. Bier zählt nicht.

Karla hat keine langen Haare. Wenn sie mal nicht arbeitet, dann fotografiert sie. Auch im Urlaub ist sie ständig mit der Kamera unterwegs.

Freitag

Im Botanischen Garten sehen wir eine Welwitschia. Die Pflanze, die am ältesten wird. Über 2000 Jahre. Karla, die Kluge, hat mir von ihr erzählt. Zwei lange, halbvertrocknete Blätter kriechen über den Sandboden. Die bildhaften Holländer nennen die Welwitschia Zwei Blätter, die nicht sterben. Man sieht ihr an, dass sie ihre Kräfte schont. Nur so kann man wohl so ein Alter erreichen.

"Es ist fünf Genever", sagt Benny. Er schwankt schon beträchtlich. "Wird Zeit, dass wir noch einen nehmen und dann ab ins Bett." Ich sehe auf die Uhr. Mitternacht. "Wie ist das mit der Zeit?", sage ich. "Mit der Zeit?" Benny kratzt sich am Kopf. "Die gibt's nur, damit nicht alles gleichzeitig passiert. Oder anders gesagt: Du kannst eine Flasche Genever nicht in einer Sekunde austrinken."

Wie oft habe ich mich schon gefragt, was das soll, Karla und ich. Ob sie inzwischen gemerkt hat, dass ich nicht zu Hause bin? Ob sie mich vermisst?

Samstag

Am Haarlemer Plein stampft eine riemengetriebene Dampforgel den Eingang zur Fußgängerzone platt. Sie begräbt alle anderen Geräusche unter sich. Benny zuckt in Breakdance-Rhythmen. Die Zeit unterteilt in abgehackte Intervalle. Gestottertes Leben. Die Betreiber der Höllenorgel, ein alter Mann und ein etwa zehnjähriger Junge, bewegen sich mit ihren kupfernen Bettelschalen wie meschugge inmitten des Lärms, als würden sie von einem wild gewordenen Puppenspieler gelenkt. Niemand gibt Geld. Alle versuchen, dem Getöse zu entrinnen. Wir erreichen die stillen Inseln der Westerdoks. Hier schläft die Zeit und liegt als Katze verkleidet auf der Fensterbank eines alten Hauses.

Auf den Grachtenbrücken im Rotlichtviertel lungern Bettler und Rauschgiftdealer herum. Die Puppen in den Schaufenstern blicken meist ausdruckslos.

Karla, die ungefährliche. Von ihr ist keine Nähe zu befürchten.

Sonntag

Mittags tragen mich die Wellen des Ozeans aus dem Concertgebouw auf die Straße. Debussys La Mer im Ohr, drifte ich benommen ins Stedelijk-Museum. Der Nachmittag wie im Rausch. Erstaunt sehe ich auf die Uhr, als sie mich hinauswerfen.

Die Laternen vor dem Café van Zuylen verströmen ihr sanftes Abendlicht. Auf dem Kopfsteinpflaster glänzt die Nässe des letzten Regengusses. Die junge Frau am Nebentisch zeigt netzbestrumpfte Beine. Ein letzter Hund trottet mit seinem Frauchen vor der Scheibe vorbei.

Montag

Der ICE verlässt Amsterdam. Wir jagen durch die holländische Ebene. Klischeebeladene Bilder mit Schafen und Windmühlen ziehen vorüber.

Ankunft zu Hause. Ich schaue nach der Bahnhofsuhr. Sie hat noch immer keine Zeiger. Abends rufe ich Karla an.

"Ich war in Amsterdam", sage ich. "Ich habe dir geschrieben."

"In Amsterdam? Heute? Was du immer erzählst."

Ich schweige.

"Unsere Verabredung fürs Wochenende," sagt Karla, "es geht nicht. Ich muss dienstlich nach London."

"Nach London", sage ich. "Schade... - Und was ist heute und morgen und übermorgen?"

"Keine Zeit", sagt sie.

Ich sitze am offenen Küchenfenster. Die Mauersegler jagen ums Haus. Weit hinten, überm Taunus, geht die Sonne unter. Mir ist, als hätte ich eine Woche jenseits der Zeit verbracht, als hätte mir ein anonymer Gönner sieben Tage geschenkt. Ich hätte jetzt Benny anrufen können. Nur mal so. Um zu schauen, ob er irgendetwas über unsere Reise sagen würde. Und das würde er garantiert. Wenn wir wirklich in Amsterdam gewesen sind. Aber ich will nicht.

Auf dem Tisch sieben Briefe an Karla.

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