Von Anne K. Strickstrock

Boberg.
Sie sind einfach ausgelaugt, total fertig. "Nur mal abhängen", geht irgendwie nicht mehr. Seit mehr als fünf Jahren sorgen sich die Ärzte um Deutschlands gestresste Jugend. "Das fängt schon bei Zwölfjährigen an, die mit Schule, Hausaufgaben und Hobbys bald mehr arbeiten als ihre Eltern. Da kommen locker 45 bis 60 Stunden pro Woche zusammen. Und in den Ferien geht's noch ins Sprachcamp", sagt der Boberger Kinder- und Jugendpsychologe Heribert Krönker. Gut die Hälfte seiner jungen Patienten ist schlichtweg gestresst.

Sie werden von Hausärzten überwiesen, weil sie über Kopf- und Magenschmerzen klagen, schlecht schlafen oder ständig Infekte haben. So wie Marie, die eine elfte Klasse am Gymnasium besucht. "Sie ist ein Trennungskind", weiß Therapeut Krönker: Verwundbare Kinder mit hohen Belastungen seien stets gefährdeter für Stress. Sie fühlen sich ständig beobachtet und beurteilt und denken, sie müssten es allen recht machen.

Manchmal aber spürten sie ihre Depression gar nicht. Erst im therapeutischen, vertrauensvollen Gespräch, wenn die Tränen fließen, die Trauer kommt - und dann aber hoffentlich bald die Kopfschmerzen verschwinden.

Auch sorgende Eltern ahnen oft nicht die Tragweite vom heutigen Leistungsstress: "Mama weiß gar nicht, was für mich auf dem Spiel steht, wenn ich nur fünf Punkte in Mathe bekomme." Wer keine 1 vor dem Komma hat, fürchtet, als Verlierer abgestempelt zu werden. So jedenfalls glauben es viele Jugendliche, weiß Krönker, der auch mit totalen Schulverweigerern arbeitet: "Ein 18-Jähriger aus der Stadtteilschule Kirchwerder fühlte sich einfach gemobbt und leer. Erschöpfungssyndrom heißt dann die Diagnose."

Mit Entspannungsübungen ist es nicht "mal eben getan", um die Kids aus der Einsamkeit ihrer Leistungserwartung zu holen. Und einsam sind viele, kennen zwar tausend Leute, haben aber keine Freunde. "Die Lehrer sind in ihrem Hamsterrad, und die Eltern voll berufstätig", sagt der Diplom-Psychologe. Er therapiert hyperaktive Kinder, "die auf Unruhe unruhig reagieren" oder Ängstliche, die anfällig sind etwa für Magersucht - wie die GSB-Schülerin (13), die nur 36 Kilo wog.

Aber nicht nur perfektionistische Mädchen leiden unter hohem Leistungsdruck, die Jungs seien nur anders gestresst: "Die müssen ihr Abgehängt-Sein kompensieren, verschaffen sich gute Gefühle durchs Kiffen oder definieren sich über Helden", erklärt der 57-Jährige manchen "verlorenen Jungen", der ohne Vater aufwächst. Die Gesellschaft sei vielerorts gefordert, den Schülern zu helfen: Es müsse Räume geben, in denen sie einfach nichts müssen.

"Wir brauchen Tobe- und Chillout-Räume in den Schulen. Und höchstens eine Stunde Hausaufgaben am Tag", fordert Krönker, der die Grünen in Bergedorfs Jugendhilfe-Ausschuss vertritt.

Er hofft, dass die Eltern mehr relaxen. Und dass ihre Kinder nicht allein auf "Binch-Learning" zielen, dem schnellen "Reinziehen" von Lehrstoff - kurz vor einer Prüfung. Vor allem aber darauf, dass er mit dem Nachwuchs seltener "Anti-Suizid-Verträge" aushandeln muss - um ihn vom letzten Schritt abzuhalten.

Die "Burnout-Kids" wurden zum Bestseller. Das Buch schrieb der Hamburger UKE-Professor Michael Schulte-Markwort, bei dem sich wöchentlich zwei gestresste Jugendliche vorstellen: "Sie müssen perfekt sein für den Auftritt in der Klasse, als wäre es eine Castingshow. Die Noten müssen stimmen, sonst ist das Leben vorbei, und sie sind nichts mehr wert."

Viele Fachleute erwarten mit Spannung die neue "Stress-Studie 2015". Sie wird am 25. Juni in Berlin vorgestellt. Mit der Uni Bielefeld ist die Bepanthen-Kinderförderung der Frage nachgegangen, welche Ursachen und Konsequenzen Stress für Sechs- bis 16-Jährige hat. Dazu wird der in St. Pauli aufgewachsene Theologe Bernd Siggelkow, Gründer des christlichen Jugendwerks "Die Arche", über die Auswirkungen von Überforderung auf Kinder und Jugendliche berichten.