Boberg/Kathmandu.
Das schreckliche Erdbeben in Nepal, bei dem Tausende Menschen starben, ist inzwischen weitgehend aus der Berichterstattung verschwunden - zu Unrecht, ist Dr. Christian Queitsch überzeugt. Der 51-jährige Unfallchirurg vom Krankenhaus Boberg versorgte mit neun Kollegen Hunderte Verletzte und betont: Die Langzeitfolgen werden Nepal noch auf Jahrzehnte beschäftigen. Mit bz-Mitarbeiter Gerrit Pfennig sprach er über schlimme Verwundungen, große Dankbarkeit und eine ungewisse Zukunft.

Sie waren zweieinhalb Wochen im Einsatz, um Opfern des Erdbebens in Nepal medizinisch zu helfen. Wie ist die Situation dort?

Dr. Christian Queitsch:
Wir haben unser mobiles Behandlungszentrum im Zelt am Rand eines Tals im Nordosten der Hauptstadt Kathmandu aufgebaut. Das Gebiet wurde stark getroffen von den Erdstößen. Steine blockierten den Weg, unser erstes Team musste sich zu Fuß dorthin vorkämpfen. Es gab zwar fließend Wasser, aber keinen Strom.

Waren Sie selbst von den Erdbeben betroffen?

Jeden Tag. Wir haben in Zelten geschlafen und immer wieder bewegte sich der Boden bei kleineren Nachbeben. Beim zweiten Beben mit der Stärke 7,2 auf der Richterskala waren wir kaum fünf Kilometer vom Epizentrum entfernt und konnten uns nicht mehr auf den Beinen halten. Wir mussten uns vor Steinen in Sicherheit bringen, die sich von einer Steilwand lösten. Danach lagen alle Gebäude, die teilweise noch gestanden hatten, in Schutt und Asche.

Dementsprechend groß war der Andrang von Verletzten?

Ja, wir haben pro Tag etwa 100 Patienten behandelt, da das Beben das staatliche Gesundheitszentrum fast vollkommen zerstört hat. Für die Landbevölkerung ist es der Hauptanlaufpunkt bei jeglicher Art von Erkrankung. Entsprechend hoch ist der Bedarf an Hilfe. Auch heute noch.

Mit welchen Arten von Verletzungen hatten Sie es zu tun?

Vorherrschend waren Prellungen, Brüche und Quetschungen - für eine solche Naturkatastrophe sind das typische Verletzungsmuster. In vielen Fällen waren die Wunden bereits infiziert, zweimal mussten wir aus diesem Grund Finger amputieren. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen Lepra-Kranken, dem mehrere Gliedmaßen fehlten. Ein bestürzender Anblick.

Gehen solche Erlebnisse spurlos an Ihnen vorbei?

In diesen Momenten bin ich komplett auf die Behandlung fixiert und habe eine Art Tunnelblick, mit dem ich alles rundherum ausblende. An den Schmerz der Opfer darf ich dabei nicht denken. Der Anblick der Verletzungen ist Alltag als Unfallchirurg. Das gibt es auch bei vielen Arbeitsunfällen in Hamburg. Schlimmer war jedoch der Einsatz im Jahr 2010 nach dem Beben in Haiti - das war wie das jüngste Gericht. Dort lagen die Menschen mit offenen Brüchen auf der Straße, wir mussten viele Beine amputieren. Das war in Nepal zum Glück anders.

Konnten Sie denn den Menschen helfen, um nach der Katastrophe wieder auf die Beine zu kommen?

In vielen Fällen war das so, allerdings wird es auch Brüche geben, die nicht fachgerecht verheilen. Dies wird vor allem zum Problem, weil viele Opfer in der Landwirtschaft arbeiten, auf terrassenförmigen Feldern am Hang. Mit Fehlstellungen wird diese Arbeit nur unter Schmerzen möglich sein. Ich gehe davon aus, dass die Nepalesen mit den Folgen der Katastrophe noch jahrzehntelang zu kämpfen haben.

Was nehmen Sie persönlich von den Eindrücken in der Erdbebenregion mit?

Vor allem die Dankbarkeit der Menschen. Viele nahmen große Strapazen auf sich, um zu uns zu gelangen. Sie transportierten beispielsweise verletzte Angehörige auf einer einfachen Trage aus Bambus mitten in der Nacht in unser Camp. Viele Kinder freuten sich dann über die 50 Stofftiere, die meine Mitarbeiter im medizinischen Versorgungszentrum für sie gesammelt hatten.

Würden Sie sich wieder für einen Hilfseinsatz wie diesen entscheiden?

Auf jeden Fall. Bereits in Haiti habe ich mit der Nichtregierungsorganisation humedica zusammengearbeitet. Als deren Anfrage für Nepal kam, musste ich nicht lange überlegen. Ich bin sehr froh darüber, dass mich das Berufsgenossenschaftliche Unfallkrankenhaus Hamburg dabei unterstützt und für die Zeit freistellte. Das ist nicht bei allen Arbeitgebern so.