Von Ulf-Peter Busse

Bergedorf.
Wenn Dr. Rembert Vaerst aus seinem Bürokomplex am Rand der Hamburger City Süd tritt, schaut der Chef von fördern & wohnen auf die graue Realität seiner Klienten: 178 Flüchtlingen bietet die Unterkunft Grüner Deich Platz in ihren zahllosen Containern - als Heimat auf unbestimmte Zeit. Erst vor zwei Wochen ist der eigentlich für Hamburgs Obdachlosen-Winternotprogramm errichtete Komplex von den neuen Bewohnern bezogen worden. Für sie ein Glücksfall, doch angesichts von mittlerweile 850 neuen Flüchtlingen, die der Hansestadt pro Monat zugewiesen werden, kaum mehr als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein.

"Wir hinken der Entwicklung hinterher. Aktuell haben wir zwar 71 sogenannte Folgeunterbringungen, aber 700 Plätze zu wenig", sagt Rembert Vaerst (63). Die vier Erstaufnahmen sind im Mai um 600 Bewohner auf jetzt gut 4600 und damit nach den dramatischen Zuständen im Herbst 2014 erneut über ihre Kapazitätsgrenzen gewachsen. 97 Menschen müssen schon wieder in Zelten wohnen, obwohl die Kapazitäten erheblich erweitert wurden, unter anderem durch den Aufbau der Erstaufnahme Auf dem Sülzbrack in Zollenspieker mit 288 Plätzen.

"Ich richte fördern & wohnen heute sehr offensiv auf große und weiter wachsende Flüchtlingszahlen aus", sagt Vaerst, der das als "Anstalt öffentlichen Rechts" firmierende Unternehmen seit acht Jahren leitet. Weil fördern & wohnen neben der Unterbringung von Obdachlosen auch für die Betreuung von weit über 90 Prozent der Hamburg zugeteilten Flüchtlinge verantwortlich zeichnet, ist für den Chef die Perspektive klar: "Wir schaffen jetzt Strukturen, die uns in die Lage versetzen, mit sehr großen Zahlen von Flüchtlingen umzugehen."

Im Vergleich zum Zuwanderungsschub in den 90er-Jahren ist die Perspektive heute gänzlich anders: "Damals ebbte die Welle nach zwei Jahren wieder deutlich ab, gab es in Deutschland wieder einen Rückgang der Asylanträge auf 50 000 im Jahr. Heute entziehen die Terror-Armee des Islamischen Staats, die zerfallenden Staaten Afrikas, der Bürgerkrieg in Syrien und die Situation in der Ukraine den Menschen dauerhaft den Boden zum Leben. Zudem sind Kommunikation und Mobilität deutlich besser als vor 25 Jahren. Deshalb erwarte ich auf Jahre hinaus einen großen bis sehr großen Flüchtlingsstrom."

In Zahlen sieht seine Strategie so aus: Gegenwärtig zählt fördern & wohnen 1064 Mitarbeiter, darunter 540 Sozialpädagogen in der Betreuung der Flüchtlingsdörfer der Erst- und Folgeunterbringung. Allein von Januar bis April 2015 ist ihre Zahl um 111 gewachsen, weitere 60 Einstellungen sind bis Ende des Jahres geplant. Jedenfalls dann, wenn die Zahl der Betreuten von derzeit 17 000 Menschen nicht noch weiter als auf die erwarteten 23 150 steigt. "Noch passt diese Prognose, auch wenn zu Pfingsten gerade erst wieder mehrere Hundert Flüchtlinge zusätzlich gekommen sind", sagt Vaerst. Ob im Mai die Zahl 1000 innerhalb eines Monats geknackt wurde, wird noch errechnet. Zum Vergleich: Im Mai 2014 kamen "nur" 385 Flüchtlinge nach Hamburg.

Doch trotz rasant wachsenden Personalbestands bleibt die Integrationsarbeit bei fördern & wohnen eine Randerscheinung. Beim Personalschlüssel von einem Mitarbeiter je 80 Bewohner halten sich die Möglichkeiten des ihm zugedachten Unterkunfts- und Sozialmanagements sehr in Grenzen. Die Aufgaben vor Ort beschränken sich deshalb ganz offiziell darauf, den sozialen Frieden in der oft von vielen Nationen bewohnten Unterkunft zu erhalten, den Menschen zu sagen, wo sie Behörden, Ärzte oder soziale Einrichtungen finden ("Verweisberatung"), und Anlaufstelle für Nachbarn zu sein.

Alles Weitere wie das Begleiten zu Ämtern oder Medizinern, die Organisation von Sprachkursen oder jegliche Form der Annäherung an die Deutschen und ihre Kultur bleibt Glückssache - oder eben die Aufgabe der Ehrenamtlichen aus der Nachbarschaft der Unterkünfte. "Die organisieren sich zum Glück mittlerweile selbst in Vereinen, Arbeitsgemeinschaften oder runden Tischen. Aber eigentlich braucht das weit mehr Struktur", weiß Rembert Vaerst. "Wir erleben oft, dass sich ganze Heerscharen von engagierten Bürgern schon vor dem Bezug der Unterkünfte an uns mit der Frage wenden, wie sie helfen können, wer eigentlich kommt und wohin was eigentlich gespendet werden kann. Das ist zwar wunderbar, aber unsere Teams müssen sich zu diesem Zeitpunkt erst einmal selbst einarbeiten. Aussagen zu sinnvoller Hilfe können sie frühestens vier bis sechs Wochen nach dem Bezug treffen."

Der Manager weiß, wie frustrierend das wirken kann. "Wir selbst engagieren uns nach Kräften. Aber mehr als drei Mitarbeiter kann fördern & wohnen nicht abstellen, um die ehrenamtliche Arbeit für ganz Hamburg zu koordinieren. Und das nur für bei uns eingetragene Ehrenamtliche. Aber auch in diesen Listen stehen schon 1000 Menschen." Entsprechend setzt er auf das neue Versprechen des Senats, in jedem Bezirk eine Stelle für einen hauptamtlichen Ehrenamtlichen-Koordinator einzurichten. "Wir von fördern & wohnen können mit unseren Mitarbeitern vor Ort bestenfalls die Projekte rund um die Einrichtungen kanalisieren. Für die Stadtteilarbeit muss die Verwaltung sorgen. Und diese Koordination wäre überaus wichtig, denn eine so intensive Zuwanderung wie gegenwärtig wird alle betroffenen Quartiere verändern, bestimmt auch belasten. Das muss gesellschaftlich aufgearbeitet werden, vor allem mit den ehrlich zu beantwortenden Fragen: Wo führt das hin? Und in welche Richtung wollen wir das beeinflussen?"

Sorgen um die Zustände in den Flüchtlingsunterkünften macht sich Rembert Vaerst nicht, auch nicht, wenn sie sehr multikulturell belegt sind: "Die Erfahrung zeigt, dass der soziale Friede gerade dort sehr gut ist, wo viele Ethnien gemischt leben. Doch dürfen es keine Gemeinschaftsunterkünfte sein, die den Bewohnern praktisch keinerlei Privatsphäre bieten. Das entscheidende Stück Individualität ist nur möglich in abgeschlossenen Wohnungen, wie etwa in der jetzt gerade bezogenen Unterkunft an der Brookkehre in Bergedorf. Dort leben bis zu sechs Menschen auf drei Zimmern mit eigener Küche und eigenem Bad." Gerade das selbstständige Kochen nach heimischen Rezepten sei wichtig für das Wohlfühlen in der neuen, fremden Umgebung.

Gleiches gelte für das Mobiliar: "Wir machen überall die Erfahrung, dass sich die von uns zur Verfügung gestellte Grundausstattung der Wohnungen sehr schnell verändert. Gerade Familien organisieren gewohntes Mobiliar. Oft ziehen alle zum Schlafen in ein Zimmer, legen die anderen wie in der alten Heimat mit Teppich aus", beschreibt Vaerst. "Unser Linoleum-Fußboden hat da keine Freunde, aber den mag ja auch kaum ein Deutscher."

Doch die halbwegs gemütliche Wohnung ist nur einer von drei zentralen Bestandteilen des Gefühls, in Deutschland angekommen und erwünscht zu sein. "Weit wichtiger ist fast allen Flüchtlingen, hier einer geregelten Arbeit nachzugehen und so schnell wie möglich mit ihrer Familie auf eigenen Fußen stehen zu können", betont der Fördern-&-wohnen-Chef. Dass die Sprachkurse dafür und für das Ankommen in Deutschland als dritter zentraler Punkt von grundlegender Bedeutung sind, aber in den Einrichtungen nicht automatisch angeboten werden, wurmt ihn sehr: "Nur für Schulkinder besteht die Pflicht, dem Unterricht in einer internationalen Vorbereitungsklasse beizuwohnen, damit sie dort innerhalb von maximal einem Jahr Deutsch lernen und dann in normale Klassen gehen können. Da ist die Schulbehörde akribisch hinterher, hat allein im vergangenen Jahr etwa 150 Klassen mit rund 1500 Flüchtlingskindern eingerichtet. Für Erwachsene gibt es dagegen keinen solchen Automatismus. Da ist eigentlich alles auf Zufall, Glück und Ehrenamtliche ausgerichtet."

Rembert Vaerst ist schleierhaft, warum nicht längst daran gearbeitet wird, schließlich gibt es funktionierende Vorbilder: "Für wohnungslose Deutsche haben wir in der Bundesrepublik ein ausgeklügeltes behördliches Fachstellenkonzept. Dort laufen alle Fäden zusammen, damit die Betroffenen schnell und verlässlich ein Dach über den Kopf bekommen. Das brauchen wir auch für Flüchtlinge. Es muss endlich klar geregelt werden, wer hauptamtlich und verlässlich was tut oder koordiniert, damit diese Menschen schnell einen Job bekommen, Deutsch lernen und Wohnungen finden."

Die Realität sieht ganz anders aus: Die Bearbeitung von Asylanträgen dauert bis zur Erteilung des dauerhaften oder befristeten Bleiberechts gern sechs bis sieben Monate statt der vorgesehenen drei. Auch der Verbleib in der Erstaufnahme zieht sich so lange hin. In den Containerdörfern der Folgeunterbringung verbringen die Menschen dann im Schnitt drei Jahre, Tendenz wegen des Flüchtlingsansturms auf Deutschland steigend. Schon heute leben zehn Prozent der Bewohner ein ganzes Jahrzehnt oder sogar länger dort. Der Umzug in Wohnungen macht sich angesichts von 850 neuen Flüchtlingen monatlich sehr bescheiden aus: Im ganzen Jahr 2014 gelang das nur 1300 Menschen.