Von Thomas Schütt

Bergedorf/Lemberg.
Gebannt blicken dutzende Paare Kinderaugen auf die Gäste und die Geschenke aus Deutschland. Getuschel, nervöses Herumrücken. Das Kinderheim liegt etwas außerhalb von Iwano Frankiwsk (1,4 Millionen Einwohner), der Gebietshauptstadt in der Westukraine.

Ein freundlicher Dorfbewohner hatte uns mit seinem Lada fast bis an Ort und Stelle gelotst. Die Leute drehen sich neugierig nach unseren Fahrzeugen um, an denen die ukrainische Flagge weht. 13 Transporter und Pkw der Johanniter aus Dresden sind es insgesamt, die auch in Lembergs Kliniken Station machten. Mit an Bord: Die zu Ostern von Bergedorfern gespendeten Hilfsgüter - und ich als ehrenamtlicher Helfer. Wir werden beäugt wie Außerirdische.

Die Atmosphäre im Heim ist kühl, das Reglement streng. Die kleinen Heimbewohner müssen sitzen bleiben, bis die Zeremonie der Erwachsenen vorüber ist.

Ich will Überraschungseier verteilen, die das CCB spendete. Doch ich darf sie erst übergeben, wenn ein Kind etwas aufgesagt hat. Erinnerungen an meine Kindergartenzeit in der DDR kommen auf - so mussten wir auch funktionieren. Ich komme mir albern vor, zumal ich gar kein Ukrainisch verstehe. Eine Erzieherin erteilt ein Kommando. Wie mit einer Stimme antwortet der Chor gedrillter Kinder.

Dann das erlösende Signal. Sie stürzen sich auf die Geschenke. Lachen, Geschrei. . . Natürlich fangen auch gleich die ersten Streitereien an. Nur ein kleines Mädchen mit hübschem Gesicht und großen, traurigen Augen bleibt sitzen, schaut ernst den anderen zu.

Meine Dolmetscherin Tanja und ich setzen uns zu ihr. Ich kann nur mit Mühe die Tränen zurückhalten, als Tanja mir später erzählt, was die achtjährige Annitschka erleben musste. "Sie spielte mit ihrer älteren Schwester am Fluss Dnister." Annitschka habe ein Spielzeug in den Fluss geworfen. Ihre Schwester ertrank bei dem Versuch, es herauszuholen. Für die Eltern brach eine Welt zusammen. Sie steckten Annitschka mit ihrem Bruder ins Heim. Er durfte kürzlich nach Hause, Annitschka nicht. "Sie plagen wahnsinnige Schuldgefühle", sagt Tanja.

Viele der Kinder sind im Heim, weil die Eltern Alkoholiker sind - ein großes Problem im Land. Eine Ursache: die bittere, überall spürbare Armut. Umgerechnet 50 Euro sind ein Monatslohn. Ein Mädchen aus einem Fahrzeug der Johanniter beschenkt spontan eine Oma auf einer Dorfstraße mit einem Schoko-Osterhasen. Auch gibt sie der Alten - die sich auf einen Ast stützt - einen Gehstock aus unseren Vorräten. "Sie konnte gar nicht mehr aufhören, zu weinen und sich zu bedanken", wird später berichtet. Leider waren Verbandszeug und Salben in einem anderen Fahrzeug. "Die Frau hatte offene Hände." Zerlumpten Gestalten, die Körbe oder Säcke schleppen, begegnen wir oft. Am Wegesrand wird alles verkauft, was sich verkaufen lässt.

Auffällig sind die riesigen Plakatwände, auf denen Soldaten abgebildet sind. "Es ist die Aufforderung, sich nicht vor dem Militärdienst zu drücken", sagt Tanja. Viele junge Männer würden versuchen, nach Westeuropa zu fliehen. "Es sind meist die Wohlhabenden. Die Armen kämpfen." Der Hass auf die Russen ist groß. Als ich einmal versuche, meine spärlichen Russisch- Kenntnisse anzuwenden, ernte ich böse Blicke. Eins scheint klar: Die Ukrainer werden nicht aufgeben, ob der Westen ihnen hilft oder nicht.

Die Bergedorfer Hilfe geht weiter. Im September startet voraussichtlich eine neue Hilfsaktion. Und in Bergedorf nehmen das Bethesda-Krankenhaus und das UK Boberg Verwundete auf.