Lohbrügge.
Ist Jerzy Polewaczyk (51) Opfer von Selbstjustiz geworden? Zunächst unter Verdacht, ein siebenjähriges Mädchen missbraucht zu haben, wurde der Obdachlose nach vier Tagen aus der U-Haft entlassen, weil das Mädchen ihn nicht wieder erkannte, auch keinerlei andere Haftgründe vorlagen. Über Selbstjustiz und die Verantwortung von Polizei, Staatsanwaltschaft und Medien sprach bz-Mitarbeiter Gerrit Pfennig mit dem Soziologen Dr. Dirk Baier. Er ist Vize-Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover.

bz: Herr Dr. Baier, viele Menschen leiden mit der Siebenjährigen, die vor eine Woche in Lohbrügge missbraucht wurde. Täuscht der Eindruck, oder sind Rufe nach Selbstjustiz in Fällen von Kindesmissbrauch häufiger zu hören als bei anderen Straftaten?

Baier: Sexueller Missbrauch an Kindern gehört zu jenen Delikten, die die Menschen am stärksten emotionalisieren. Dies liegt daran, dass die Diskrepanz zwischen Opfer und Täter besonders groß ist: Hier das unschuldige Opfer, dort der grausame Täter. Starke Reaktionen bis hin zu Selbstjustiz-Gedanken sind bei solchen Fällen nichts Ungewöhnliches. Dies sieht man am Beispiel einer Kindstötung in Emden, wo im März 2012 aufgeregte Bürger sich vor der Polizeidienststelle einfanden.

Was unterscheidet Kindesmissbrauch in den Augen Unbeteiligter von anderen Delikten?

Viele Menschen sind selbst Eltern, haben Enkel, Neffen oder Nichten und können nicht verstehen, wie man Kindern so etwas Negatives antun kann. Die Täter müssen in ihren Augen daher etwas Unmenschliches haben. Dies wiederum erlaubt es demnach, sie unmenschlich zu behandeln, zum Beispiel mittels Lynchjustiz.

Polewaczyk wurde eine Woche später in direkter Nähe zum Tatort getötet. Die Polizei schließt derzeit aus, dass die Familie und der Bekanntenkreis des missbrauchten Mädchens etwas damit zu tun haben. Für wie wahrscheinlich halten Sie, dass es sich um Selbstjustiz handelte?

Zwar ist immer wieder zu hören und zu lesen, dass zur Selbstjustiz aufgerufen wird, unter anderem in sozialen Medien. Dass solche Aufrufe tatsächlich in die Tat umgesetzt werden, ist aber sehr selten; da müssen weitere Faktoren zusammenkommen. Generell sollte derzeit noch keine Theorie ausgeschlossen werden. Aus meiner Sicht spricht dennoch mehr dafür, dass der Mann aus anderen Gründen umgekommen ist.

Nach dem Kindesmissbrauch veröffentlichte die Polizei eine Pressemitteilung - ohne Namensnennung - über Polewaczyks Festnahme. Tags darauf war der Vorname und der abgekürzte Nachname in einer Boulevardzeitung zu lesen. Welche Bedeutung kommt einer solchen Veröffentlichung in diesem Fall zu?

Einerseits hat die Polizei die Aufgabe, die Öffentlichkeit über ihre Ermittlungen zu informieren, gerade bei Delikten, die Menschen stark beunruhigen, beziehungsweise bei denen es zu wiederholten Taten kommen könnte. Andererseits gilt auch für die Polizei, dass Tatverdächtige noch keine überführten Täter sind. Die Polizei muss deshalb sehr vorsichtig gerade im Bereich des Kindesmissbrauchs agieren. Grundsätzlich wäre es zudem wünschenswert, wenn Medien persönliche Informationen zu Tatverdächtigen nicht veröffentlichen würden.