Literaturwettbewerb: Kurzgeschichte von Tobias Lagemann auf Platz 5 - Autor liest bei Preisverleihung am 31. August im Schloss

Tobias Lagemann (46) belegt mit der Kurzgeschichte "Die da unten" Platz fünf unter 368 Teilnehmern des AstroArt-Literaturwettbewerbs. Während der Preisverleihung am Sonnabend, 31. August, ab 18 Uhr im Schloss trägt er den prämierten Text live vor - ebenso wie die Autoren auf den Plätzen vier bis eins ihre Beiträge. Deren Kurzgeschichten drucken wir in den nächsten Tagen.

Das Fenster hat er am Vormittag eingebaut, noch klebt die Schutzfolie auf dem Rahmen. Er beginnt sie abzuziehen, das geht ganz einfach. Dabei sieht er nach unten auf den Bauwagen, in dem er noch sitzen könnte, wenn sie nicht über ihn gelacht hätten.

Diese Mistkerle, denkt er und lehnt die Stirn gegen das kalte Glas. Schon wieder haben sie diesen Witz gemacht, der keiner ist, haben gelacht über den Glaser, der zu tief ins Glas geschaut hat. Ja, er hat getrunken. Aber zu viel? Nein, das nicht. Er trinkt nie zu viel, wenn er auf Baustelle ist. Er weiß, wie wichtig das mit der Arbeit ist. Ohne die Arbeit hätte er nichts bis auf zu viel Zeit und seinen Garten.

Für jemanden wie ihn, der gerne arbeitet, zu wenig. Er weiß das, weil er in den letzten Jahren oft arbeitslos gewesen ist. Er würde zu viel trinken, das ginge nicht, so begründeten das die Chefs. Aber die Wahrheit sieht anders aus, das weiß er. Mit fast fünfzig will man ihn nicht mehr, da will man junge Burschen, frisch ausgelernt, die keinen Feierabend kennen, denen es nichts ausmacht, wenn sie die Wochenenden durcharbeiten.

Und so muss er dankbar dafür sein, dass er wenigstens diese Arbeit hat. Entsprechend vorsichtig hat er auch heute getrunken, auf dem Weg zur Arbeit eine Flasche, in den Pausen wieder. Mehr aber nicht, sich zwischendurch nur zwei Mal am Flachmann bedient, nach der Sache im Bauwagen dann kurz am Gin genippt.

Da ist er ganz anders als die da unten im Bauwagen. Die trinken offen, denen stellt der Polier höchstpersönlich einen Kasten hin. Damit die Arbeit besser geht, so hat der das erst gestern wieder gesagt und dabei gelacht. Auch die jungen Burschen haben gelacht und sich bedankt, geht klar, Meister, haben sie gesagt.

Und so welche lachen über ihn, den Glaser, der zu tief ins Glas schaut. Nein, das geht nicht, das ist verlogen. Am liebsten, denkt er, würde ich denen da unten ein Fenster auf das Wagendach schmeißen. Aber dann, denkt er, bin ich meine Stelle los, das geht nicht. Das glaubt mir doch keiner, dass mir das Fenster so aus der Hand geglitten ist, dass es auf den Bauwagen gekracht ist.

Aber vielleicht kann ich einen Hammer fallen lassen oder irgendetwas, das viel Krach macht. Ja, denkt er, das ist eine gute Idee, löst die Stirn von der Scheibe, schaut sich um. Mit den Aluprofilen in der Ecke hinten rechts könnte er denen da unten einen Mordsschrecken einjagen. Er könnte ihnen zeigen, dass sie mit ihm nicht alles machen können, dass mit ihm zu rechnen ist, mit seiner Gegenwehr. Ja, denkt er, so mache ich das, aber vorher einen Schluck, die Zeit muss sein.

Er holt den Flachmann aus der Werkzeugtasche, nimmt einen tiefen, ein wenig nach Öl schmeckenden Schluck, stellt sich wieder ans Fenster. So lässt sich das aushalten, denkt er, nimmt einen zweiten Schluck, dann einen dritten. Ich muss vorsichtig sein, denkt er und lehnt seine Stirn wieder an die Scheibe, die dürfen nicht denken, dass ich es war, der ihnen etwas auf den Bauwagen geschmissen hat. Ich muss die Profile werfen, gut gezielt, dann schnell das Fenster schließen. Und wenn sie heraus kommen, bleich vor Schreck wegen des Lärms, wenn sie sich umschauen und aufschauen, muss ich das Fenster öffnen, brüllen, was denn da los sei.

Später, ja, da vielleicht, da kann ich Andeutungen machen. Aber zugeben darf ich nichts, das kann ich nicht, das würde mich die Stelle kosten. Aber die aus dem Bauwagen, die werden ahnen, dass ich für den Krach verantwortlich war. Und darauf kommt es an, nur darauf, denkt er. Sie würden dann nicht mehr über ihn lachen, weil sonst etwas anderes auf den Wagen fallen würde.

Ja, denkt er, so werde ich das denen sagen, ich werde sagen, dass sie Glück gehabt hätten, dass nur Aluprofile herunter gefallen sind, denn nicht auszudenken, was alles hätte passieren können, wenn es Gerüststangen gewesen wären, das hätte wirklich Folgen haben können. Ja, so mache ich das, denkt er und geht leicht schwankend in die Ecke mit den Aluprofilen.

Er wählt zwei aus, so groß wie Fernseher. Leicht sind sie, die Kanten scharf, das spürt er durch seine Handschuhe hindurch. Zurück am Fenster genehmigt er sich noch einen Schluck aus seinem Flachmann, schiebt ihn dann in seine Hosentasche. Ich werde nachher auf meinen Erfolg trinken, denkt er. Nicht viel, denn das darf ich nicht, aber ich werde ganz feierlich einen Schluck trinken, ihn richtig genießen.

Dann ist aber Schluss mit dem Flachmann, für heute, denn ich darf keine Schnapsfahne haben, die würde man mir nicht durchgehen lassen. Aber dafür gibt es Tricks, da reicht es, wenn er sich den Mund nach dem Schnaps mit Bier ausspült. Bier ist ja nicht verboten, ein paar sind erlaubt. Und mehr als die trinkt er sowieso nicht. Er weiß ja, worauf es ankommt. Er darf seine Arbeit nicht riskieren.

Außerdem kann er später trinken, zu Hause, da wartet ein Kasten in der Küche, zumindest das, was nach dem langen Abend gestern davon übrig geblieben ist, damit kann er den Feierabend genießen. Und natürlich den erfolgreichen Abschluss der Sache mit den Aluprofilen richtig schön feiern.

Aber ich muss vorsichtig sein, denkt er. Deshalb ja auch das Mundausspülen mit Bier, das überdeckt den Schnapsgeruch, und wenn jemand fragt, wie viel er getrunken hat, kann er auf die geöffnete Flasche Bier neben dem Werkzeug zeigen. Halb voll ist die noch, und überhaupt hat er nur getrunken, weil es auf der Baustelle so warm und staubig ist.

Denen aus dem Bauwagen würde er das so natürlich nicht sagen, die würden darüber nur lachen. Aber, denkt er, so sind Trinker, die halten sich nicht dafür, wissen aber ganz genau, dass die anderen zu viel trinken. Und reden dann darüber, zerreißen sich das Maul, lachen. So wie sie in der Pause über ihn gelacht haben, über den Glaser, der zu tief ins Glas geschaut hat.

So geht das seit einer Woche, das geht einfach nicht, das macht mich fertig, denkt er, stellt dann erschrocken fest, dass er das alles bereits irgendwie gedacht hat. Ich darf nicht nur denken, ich muss was tun, denkt er, jetzt, ich muss denen zeigen, dass sie mit mir nicht machen können, was sie wollen.

Und er löst sich von der Kühle des Fensters, holt zwei weitere Aluprofile, scharfkantig wie die beiden ersten. Damit beladen wankt er zu seiner Werkzeugecke. In seinem Kopf rauscht das Blut und in diesem Rauschen beginnt die Welt zu schwanken. Ich muss, denkt er, noch schnell etwas trinken, sonst schaff ich das nicht mit dem Werfen. Das wird ja überhaupt richtig schwer werden, das mit dem Treffen des Wagendachs. Da ist ja nicht nur die Höhe, da sind fünf, vielleicht mehr Meter von der Fassade weg zu überwinden. Und so ein Aluprofil, das verhält sich schnell wie eine Tragfläche, kommt ins Fliegen.

Zielwasser, denkt er, ich brauche Zielwasser. Er lässt die Profile fallen, das Scheppern erinnert ihn an das Läuten ferner Kirchenglocken. Er muss zu dem Karton mit Bauschaum, da hat er eine Flasche Gin versteckt. Gin wäre bei Piloten beliebt, weil man den nicht riecht, hat er mal gehört und gedacht, klar, die lässt man besoffen fliegen, während man mir wegen ein paar Bier die Hölle heiß macht.

Aber so ist das, denkt er und dreht die Flasche auf, trinkt in großen Schlucken. Der Gin schmeckt ihm nicht, hat ihm nie geschmeckt, aber der muss jetzt sein, sonst schaff ich das nicht, denkt er und betrachtet seine Hände, die zu zittern beginnen.

Das ist ja verrückt, denkt er, sieht dann, wie ihm die Flasche aus den Fingern gleitet, hört ihr Zersplittern. Das ist alles so komisch, dass er zu lachen beginnt. Laut klingt das Lachen, viel zu laut, also hält er sich die Hand vor den Mund. Nein, denkt er, ich muss vorsichtig sein, ich darf mich nicht verraten, und muss vor allem endlich das Fenster öffnen. Er stolpert nach vorn, spürt seine Schulter gegen das Fenster schlagen, hört ein Knirschen.

Dann gibt etwas unter seinem Gewicht nach, aber es ist nicht das Glas, das kann nicht nachgeben, das ist Sicherheitsglas, das hält. Es ist der Bauschaum, denkt er, den habe ich vergessen. Und er weiß, was geschehen wird. Die Schrauben, die den Rahmen fixieren, werden nicht halten, nicht das Fenster und ihn. Seine Hände suchen dennoch nach Halt, aber finden nur Glas, angenehmes kühles, glattes Glas.

Und er spürt, wie sich der Fensterrahmen aus der Öffnung löst, erst langsam, dann schneller, und ihn, getragen von der eigenen Hilflosigkeit, mitnimmt auf den Weg ganz nach unten. Und während er fällt, lacht er, denn das jetzt, mein Sturz, denkt er, wird allen zeigen, was passiert, wenn man über mich lacht.