Kiel (dpa/lno). Das DRK hat die Geschichte sogenannter Kindererholungsheime des Verbands in Schleswig-Holstein aufarbeiten lassen. Eine nun vorgelegte Studie liefere teils erschreckenden Einblick in Erlebnisse.

Bloßstellen beim Weinen oder Einnässen vor anderen Kindern, Drohungen eines längeren Aufenthalts bei Nicht-Aufessen der Speisen und andere Strafandrohungen: Solche Erlebnisse machten einer am Dienstag in Kiel vorgestellten wissenschaftlichen Studie zufolge sogenannte Verschickungskinder in den 1960er und 1970er Jahren in Heimen des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Schleswig-Holstein. Die Masterarbeit von Autorin Leonie Umlauft von der Kieler Universität kommt zu dem Ergebnis, dass viele der Heimaufenthalte damals durch Angst vor Strafen sowie von Gefühlen der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins geprägt waren.

Das DRK hatte die Universität Kiel mit einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte von „Verschickungskindern“ nach 1945 beauftragt. Sie habe dafür 4300 Seiten Archivmaterial zu den fünf früheren Heimen des DRK in Schleswig-Holstein durchforstet und fünf anonymisierte und ausführliche Interviews mit Betroffenen geführt, sagte Umlauft bei der Vorstellung ihrer Ergebnisse. „Die Intention hinter den Kindererholungen und Kinderkuren war eine gute, in der Umsetzung wurden jedoch die kindlichen Bedürfnisse oftmals komplett missachtet.“

So habe das Bild vorgeherrscht, Kindern ginge es nur bei Gewichtszunahme besser, sagte Umlauft. Kinder hätten den Aussagen zufolge am Tisch sitzen müssen, bis sie aufgegessen hätten. Anderenfalls sei ihnen gedroht worden, die sechswöchigen Aufenthalte würden verlängert. Das sei aber nicht passiert. Einer ihrer fünf Interviewpartner offenbarte der Soziologin Erfahrungen physischer Gewalt in einem Kindererholungsheim in Glücksburg. Dort sei es Praxis gewesen, Kinder einzusperren, wenn sie geweint hätten.

In den DRK-Heimen im Norden seien vor allem Kinder aus prekären Verhältnissen und insbesondere aus West-Berlin untergebracht gewesen, sagte Umlauft. „Es hat psychische Gewalt vorgeherrscht.“ Betroffene hätten wiederholt von „extremer Strenge“ berichtet. Sie hätten über ein Gefühl gesprochen, den Mitarbeitenden ausgeliefert zu sein. Teilweise litten sie heute noch unter gestörtem Essverhalten oder hätten Probleme, mit mehr als einem anderen Menschen in einem Raum zu schlafen.

Die Studie soll nach Angaben der Sprecherin des Vorstandes des DRK-Landesverbandes, Anette Langner, dazu beitragen, das Bewusstsein für die erlebte Gewalt zu schärfen und zukünftige Forschungen anzustoßen. „Uns als DRK-Landesverband war es sehr wichtig, die teils furchtbaren Situationen und Vorgänge in den DRK-Kinderkur- und Erholungsheimen von unabhängiger Seite wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen und insbesondere dabei Betroffene zu Wort kommen zu lassen.“ Das DRK bedaure zutiefst, was in den Heimen passiert sei, sagte Langner. Der Landesverband betreibt diese Heime mittlerweile nicht mehr. Die Studie sei ein wichtiger Schritt in der Aufarbeitung der Kindererholung durch das DRK in Schleswig-Holstein.

Die Aufenthalte in den Heimen waren bei Erkrankung eine Kassenleistung. Eltern mussten nach Darstellung von Umlauft teilweise aber einen Eigenanteil zahlen. Arme Eltern konnten sich davon auch befreien lassen.

Nach Rückkehr der Kinder seien Erlebnisberichte oftmals nicht ernst genommen worden, sagte Langner. Nach ihrer Kenntnis habe es niemals eine strafrechtliche Prüfung der Vorfälle von damals gegeben. „Es ist niemand vor Gericht gekommen.“ Das DRK spricht von einem teils erschreckenden Einblick in die Geschichte der Kindererholung und -kur in Schleswig-Holstein. Trotz veränderter rechtlicher Grundlagen über die Jahrzehnte bleibe Gewalt ein zentrales Erinnerungsmoment in den Berichten ehemaliger Verschickungskinder. „Insbesondere die psychische Gewalt, die oft durch Strafandrohungen und ein distanziertes Verhalten des Personals gegenüber den Kindern ausgeübt wurde, prägte das Leben vieler ehemaliger Heimbewohnerinnen und -bewohner.“

Bereits 2012 hat das Präsidium des DRK in Schleswig-Holstein Entschädigungszahlungen an Verschickungskinder beschlossen. Wer nachweisen kann, dass ihm Leid angetan wurde, kann bis zu 10.000 Euro erhalten. Den Angaben des Landesverbands zufolge wird dies je nach Antrag und Einzelfall im Präsidium besprochen. Bisher wurde ein Antrag gestellt und genehmigt.