Westerland/Göhren. Einwohner von beliebten Urlaubsorten stören sich an den vielen Urlaubern. Dieses Gefühl müsse man ernst nehmen, sagen Experten.

Verstopfte Straße, lange Schlangen im Einkaufsladen, kaum bezahlbarer Wohnraum: Gerade mit Blick auf die Sommermonate stöhnt in Urlaubsorten entlang der deutschen Nord- und Ostseeküste manch Einheimischer auf, wenn er an die vielen Urlauber und Tagesgäste denkt. Seit einiger Zeit macht ein Wort und ein Gefühl die Runde, das man sonst eher aus Orten wie Venedig kennt: Overtourism (auf deutsch etwa Übertourismus oder ein Zuviel an Touristen).

Tourismus: Akzeptanz ging 2022 leicht zurück

Overtourism definiert sich nicht unbedingt über einen harten Fakt, wie der Direktor des Deutschen Instituts für Tourismusforschung an der FH Westküste Prof. Bernd Eisenstein, sagt. Vielmehr habe man ab dem Moment, wenn sich Einheimische - oder auch andere Urlauber - in ihrer Lebensqualität eingeschränkt oder durch zu viele Gäste gestört fühlen, meist zeitlich und lokal begrenzt übermäßigen Tourismus. „Bei allen Zahlen, die wir kennen, haben wir kein flächendeckende Overtourismproblem in Deutschland.“ Im Gegenteil, die meisten Orte wünschten sich mehr Tourismus.

Schaut man sich die Daten an, die das Deutsche Institut für Tourismusforschung regelmäßig erhebt, sieht man: Es gibt insgesamt eine hohe Tourismusakzeptanz bundesweit. Aber der Vergleich von 2019 und den Zahlen von 2022 zeige auch, dass es einen leichten Rückgang in der Akzeptanz gebe, sagte Eisenstein. „Es tut sich was.“ Es gebe offenbar eine erhöhte Sensibilität. Und diese müsse ernst genommen werden.

Hat die Corona-Pandemie das Gefühl des Zuviels ausgelöst?

Das Gefühl des Zuviels kam vielerorts an den Küsten während der Corona-Pandemie verstärkt zum Vorschein. Auf Sylt etwa waren die Einheimischen im ersten Pandemiejahr während des Lockdowns unter sich. Als dann wieder Touristen auf die Insel kamen, kam ihnen ihre Insel noch voller vor als sonst in der Saison.

Ähnlich ging es Einheimischen in anderen Urlaubsregionen entlang der Küsten. In einigen Orten gründeten sich Bürgerinitiativen. Auf Sylt etwa entstand das Bündnis „Merret reicht's“, das den Ausverkauf der Insel stoppen will und die Einheimischen und ihre Bedürfnisse verstärkt in den Mittelpunkt rückt. Auf Föhr sind ebenfalls Bürgerinitiativen aktiv, die für „lebenswerte“ Inseln eintreten.

Auf Rügen hat sich eine Bürgerinitiative gebildet

Auch in Göhren auf Rügen hat sich eine Bürgerinitiative gegründet. Nadine Förster ist Mitinitiatorin von „Lebenswertes Göhren“. Göhren liegt im Südosten Rügens – einem Tourismus-Hotspot Mecklenburg-Vorpommerns. Im Sommer, „in diesen Monaten Juli, August, die ja eigentlich auch für die Einheimischen die schönsten sind, haben die Einheimischen nichts mehr von ihrer Insel.“

Sie spricht sich dafür aus, nicht noch mehr Bettenkapazitäten zu schaffen. Denn auch die würden zur Hauptsaison gefüllt. „Und da bekommt man dann eben noch mehr Leute auf die Straße, noch mehr Leute in die Supermärkte und noch mehr Leute an die Strände.“

Mecklenburg-Vorpommern hat die meisten Touristen

Mecklenburg-Vorpommern hat nach Angaben des dortigen Landestourismusverbands die höchste Tourismusintensität Deutschlands - noch vor Schleswig-Holstein, das noch am ehesten folgen könne. Der Rest liege deutlich drunter. Die Wahrscheinlichkeit, einem Touristen zu begegnen, sei nirgendwo so hoch, wie in Mecklenburg-Vorpommern.

Dennoch würde Woitendorf nicht von Overtourism in MV sprechen, „trotz Belastungserscheinungen durch den Tourismus und auch manchen Überlasterscheinungen durch den Tourismus“. Er versteht unter dem Begriff eine dauerhafte permanente Überbelastung von touristischen Orten. „Das haben wir in Mecklenburg-Vorpommern nicht.“

Niedersächsische Nordseeküste liegt deutlich zurück

Ähnlich sieht es in Schleswig-Holstein aus. Philipp Queiser von der Tourismus-Agentur des Landes (TASH) sagt, an besonders beliebten Tourismusorten könne es mal Belastungen geben - vor allem in der Hochsaison“. Aber es gebe auch Regionen, manchmal nur ein paar Kilometer weiter, in denen es ganz entspannt zugehe. Eine Herausforderung bestehe dann im gezielten Verteilen und Entzerren der Gästeströme.

Im Vergleich zu Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein liegt die niedersächsische Nordseeküste bei den Gesamt-Marktanteilen deutlich zurück, wie aus Daten der Landesgesellschaft Tourismus-Marketing Niedersachsen (TMN) hervorgeht. „Wir hinken im Wettbewerb hinterher und sind lange nicht da, wo wir sein müssten. Aber wir sind auf dem richtigen Weg“, sagte der Chef der Tourismus-Agentur Nordsee (Tano) Mario Schiefelbein im Februar. Um jeden Preis sollen aber keine Touristen zu einem Besuch an der niedersächsischen Küste motiviert werden.

170.000 Arbeitsplätze in Schleswig-Holstein durch Tourismus

Tourismus ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, gerade auch in den Küstenländern. Allein im nördlichsten Bundesland sichert der Tourismus für fast 170.000 Menschen wohnortsgebundene Arbeitsplätze auch in eher strukturschwachen Regionen. Die Bürgermeisterin von Scharbeutz (Kreis Ostholstein), Bettina Schäfer, betont etwa, „Tourismus ist eines unserer wichtigsten wirtschaftlichen Standbeine, was die Finanzierung gemeindlicher Infrastruktur sichert“.

Aus der Forschung wisse man, dass bei Menschen, die direkt vom Tourismus lebten, die Tourismusakzeptanz höher sei, sagt Eisenstein. Aber auch die anderen profitierten von den Gästen, wenn vielleicht auch eher indirekt: Beispielsweise, weil es in einem kleinen Ort einen Supermarkt, ein kulturelles Angebot oder ein Schwimmbad gibt. Ohne die Touristen würde es sich vielleicht nicht lohnen, eine Bäckerei oder einen Supermarkt offen zu halten oder ein Restaurant zu betreiben. „Da müssen wir alle auch ein bisschen Aufklärung betreiben.“

Gäste werden an weniger besuchte Orte umgelenkt

Neben der Aufklärung über die positiven Seiten des Tourismus gibt es seit einiger Zeit verstärkt Bemühungen, den Dialog mit der Bevölkerung vor Ort zu intensivieren, sagt Queiser von der TASH. Ziel sei, ein gemeinsames Lebensraummanagement zu entwickeln und für ein Miteinander von Gästen und Einheimischen zu werben.

Viel frequentierte Regionen versuchen beispielsweise an besonders besucherstarken Tagen Gäste an weniger besuchte Orte oder Strandabschnitte umzulenken und insbesondere frühzeitig über digitale Kanäle - etwa über ausgelastete Strände oder alternative Parkplätze - zu informieren.

Tourismus: Beim Wohnraum steuern Urlaubsorte gegen

Etwa an den auch bei Tagesgästen aus Hamburg und Umgebung beliebten Orten der Lübecker Bucht oder in St. Peter-Ording an der Nordsee. Göhren auf Rügen arbeitet an einem Lebensraumkonzept, die Ostseeregion Schlei wirbt mit einer neuen Kampagne für das Miteinander und den gemeinsamen Rhythmus zwischen Gästen und Einheimischen.

Und auch beim Dauerbrennerthema bezahlbarer Wohnraum für Einheimische steuern Urlaubsorte gegen - in dem sie den Neubau von Ferienwohnungen verbietet oder bei der Zweckentfremdung von Dauerwohnraum kritischer hinschauen. Auf den ostfriesischen Inseln etwa gibt es seit Jahren Bestrebungen, bezahlbaren Wohnraum für Insulaner zu erhalten. Und die Gemeinde Sylt hat kürzlich ein Beherbergungskonzept verabschiedet, das unter anderem den Neubau von Ferienwohnungen verbietet.