Itzehoe (dpa/lno). Irmgard F. soll als Sekretärin in der Kommandantur des KZ Stutthof Beihilfe zum tausendfachen Mord geleistet haben. Was konnte sie von den damaligen Verbrechen der SS mitbekommen? Zwei Richter aus Itzehoe wollen den einstigen Arbeitsplatz der Angeklagten besichtigen.

Ein Jahr nach Beginn des Prozesses gegen eine frühere Sekretärin im KZ Stutthof wollen zwei Richter am Landgericht Itzehoe das ehemalige Lager bei Danzig besuchen. An der Inaugenscheinnahme werden er selbst und die berichterstattende Richterin der Kammer sowie der historische Sachverständige Stefan Hördler teilnehmen, gab der Vorsitzende Richter Dominik Groß am Dienstag bekannt. Wunschtermin für die Reise nach Polen sei der kommende 4. November, aber das müsse noch mit der Gedenkstätte Stutthof und den polnischen Behörden abgestimmt werden. An der Inaugenscheinnahme können die übrigen Prozessbeteiligten teilnehmen. Auch die Angeklagte könne, müsse aber nicht mitkommen.

Der 97 Jahre alten Irmgard F. wird Beihilfe zum systematischen Mord an über 11.000 Gefangenen vorgeworfen. Diese Beihilfe habe sie als Zivilangestellte in der Kommandantur des Lagers geleistet, wo sie von Juni 1943 bis April 1945 als Schreibkraft arbeitete, hieß es in der Anklage.

Die beiden mit der Inaugenscheinnahme beauftragten Richter wollen vor allem das ehemalige Kommandanturgebäude besichtigen und sich von dem Historiker erklären lassen, welche Bereiche des Lagers die Angeklagte damals von ihrem Arbeitsplatz aus sehen konnte. Zentral sei die Frage, was von den verübten Verbrechen wahrnehmbar war.

Stutthof sei ein relativ überschaubares Lager gewesen, sagte eine Richterin am Dienstag als Zeugin. Die 52-jährige Berliner Juristin war 2014 bis 2016 bei der Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg tätig gewesen und hatte ab Mai 2015 die Ermittlungen zu Angehörigen des ehemaligen Lagerpersonals in Stutthof geführt. Sie hatte auch die Vorermittlungen gegen Irmgard F. eingeleitet. Vom zweiten Stock der Kommandantur aus habe man «einen ganz guten Überblick» gehabt. Man habe auch den Eingangsbereich des sogenannten Neuen Lagers sehen können, in dem die Gefangenen «in einem unglaublich elenden Zustand» gewesen seien, erklärte die Richterin, die nach eigenen Angaben im August 2015 die Gedenkstätte besucht hatte.

Bei ihrem Besuch habe sie auch eine umfangreiche Namensliste von SS-Angehörigen durchsehen können, die in Stutthof und einigen anderen Konzentrationslagern tätig waren. Ob sie dabei auch auf den Namen von Irmgard F. gestoßen sei, konnte sie nicht mehr sagen. Die persönlichen Daten der Angeklagten und Angaben zu ihrer Tätigkeit in Stutthof habe sie auf einer Karteikarte gefunden, die das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen im Rahmen von Ermittlungen zu anderen Beschuldigten in den 1960er und 80er Jahren angelegt habe.

Die Zentralstelle habe die Auffassung vertreten, dass ab Mitte 1944 in Stutthof eine systematische Vernichtung stattgefunden habe. Das Lager sei in dieser Zeit «darauf ausgerichtet gewesen, eine bestimmte Personengruppe zu töten», sagte die Zeugin. Dabei habe es sich um nicht mehr arbeitsfähige jüdische Gefangene gehandelt. Alle Beteiligten aufseiten des Lagerpersonals kämen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshof aus den 60er und 70er Jahren als Beschuldigte wegen Mordbeihilfe in Betracht. Absurderweise habe das Konzentrationslager eine ganz normale Behördenstruktur gehabt. Diese Struktur habe aber nur funktionieren können, wenn die kleineren Rädchen funktionierten. «Auch eine Schreibkraft trägt zum reibungslosen Ablauf bei», sagte die Ermittlungsrichterin.

Sie bezeichnete es zugleich als nachvollziehbar, dass sich die deutsche Justiz in den 60er und 70er Jahren auf die Haupttäter und Entscheidungsträger des KZ-Systems konzentriert habe. «Es drohte noch die Verjährung.» Erst 1979 hatte der Bundestag die Verjährung von Mord und Beihilfe zum Mord endgültig aufgehoben.

Die Strafkammer am Landgericht Itzehoe hofft nach den Worten ihres Vorsitzenden, das Urteil Ende des Jahres oder spätestens im Januar verkünden zu können.