Hamburg. Es ist schwül an diesem Dienstagnachmittag. Auf dem Valentinskamp rauschen die Autos an den alten Häuserfassaden entlang. Vor dem Büro des Gängeviertels steht René Gabriel in einer Menschentraube. Der Straße hat er den Rücken zugekehrt, in der Hand hält er eine Zigarette.
„Kommt“, sagt der 47-Jährige und deutet auf den Eingang, der in den Innenhof des Gängeviertels führt – die Schierspassage. Seit der Häuserbesetzung des umkämpften Künstler-Quartiers 2009 ist René Gabriel dabei – und hat den gesamten Prozess der letzten Jahre begleitet: Den Widerstand gegen den Verkauf des Quartiers an einen großen Investor. Das Ringen mit Politik und Verwaltung. Den Erfolg der Kunstschaffenden mit der Nachricht „Das Gängeviertel bleibt“, weil die Stadt das Quartier zurückkaufte. Den Beginn der Sanierungen und der Wunsch des Viertels nach Selbstverwaltung. Der anschließende Planungsstopp über vier Jahre, weil die Verwaltungsfrage ungeklärt blieb. Bis zur Einigung 2019. Dann setzte die städtische Gesellschaft Steg einen Erbbaurechtsvertrag. Das heißt: Bis mindestens 2094 kann die Genossenschaft des Viertels nun über Projekte, Vermietung der Wohnungen und die Gestaltung bestimmen – teilweise in Absprache mit den verschiedenen Behörden. Eigentümer bleibt die Stadt. René Gabriel ist noch immer dabei – heute leitet er die Koordination der Sanierungen im Gängeviertel seitens des Vereins.
Stadtentwicklung Hamburg: Hat sich die Rebellion im Gängeviertel gelohnt?
Eine lange Geschichte mit vielen Höhen und Tiefen prägt damit das Quartier – und doch ist es in den letzten Jahren ruhiger geworden. Dabei geht es hier immer noch Schritt für Schritt voran. Anders als man denken könnte, ist der Gebäudekomplex noch lange nicht fertig saniert. Denn der Planungsstopp von 2015 bis 2019 hat seine Spuren hinterlassen. Bis die Gebäude fertig saniert sind, wird es noch einige Jahre dauern – frühestens Ende 2027 soll das Projekt abgeschlossen sein.
Aktuell sind erst drei der zwölf Häuser fertig gestellt. Noch 2017 wurde der für erstmals 2020 angesetzte Abschluss der Bauarbeiten auf 2023 verlegt. Nun sind wieder vier Jahre dazugekommen. Ralf Starke von der Steg betont: „Es wäre schöner gewesen, früher fertig zu sein, aber ich denke, wir brauchten diese Baupause, um uns zu einigen.“ Aber was passiert nun im Viertel? Was ist geplant, was hat sich entwickelt?
Wichtiger Treffpunkt für Kunstschaffende
Das denkmalgeschützte Quartier inmitten von Caffamacherreihe, Valentinskamp und Speckstraße ist für viele Kunstschaffende ein wichtiger Treffpunkt. Im 19. Jahrhundert umfasste das Gängeviertel große Teile der heutigen Alt- und Neustadt. Vor allem ärmere Menschen wohnten in den kleinen Wohnungen, die Lebensbedingungen waren schlecht, Krankheiten breiteten sich schnell aus. Heute sind nur noch wenige Häuser übrig geblieben.
Wer den Vorhang zum Innenhof am Valentinskamp zur Seite schiebt, tritt nun in eine kleine Oase ein. Auf dem Asphalt stehen Pfützen, es riecht nach Regen. Vor den bemalten Wänden spielen ein paar junge Männer Tischtennis. Ihr Lachen und Fluchen erfüllt den Platz. Weiter hinten sitzen einige Frauen, unterhalten sich, löffeln zusammen einen Teller Suppe. Mitten im Hof ragt eine Birke in den Himmel empor. Wie ein Gemälde wirkt das Gängeviertel an diesem Tag. Bunte Kunstelemente schmücken die Passage, heben sich ab von den Backsteinfassaden. Über den Dächern hängt eine Wolkendecke. Aber: Geändert hat sich in diesem Teil augenscheinlich noch so gut wie nichts. Das liege an der Reihenfolge der Sanierungsarbeiten, so Gabriel.
Insgesamt 25, 3 Millionen Euro
„Noch vor dem Planungsstopp wurden das ,Kupferdiebehaus‘, das ,Jupi-Haus‘ an der Caffamacherreihe und das soziokulturelle Zentrum ,Fabrique‘ saniert“, sagt René Gabriel. 2015 waren diese Arbeiten für 8,2 Millionen Euro abgeschlossen. Derzeit ist das Speckhaus an der Speckstraße von Hausnummer 83 bis 87 für 2,6 Millionen Euro in Arbeit. Ab Anfang 2023 soll dann das Haus Valentinskamp 38 b und c saniert werden, so die Steg. Nach der „Valentina“, wie der Verein das Haus nennt, kommen unter anderem das Terrassen- und das Familienhaus in der Schierspassage an die Reihe. Mit der Planung ist der Verein derzeit sehr zufrieden.
„Wir tauschen uns in einer Baukommission regelmäßig aus, die Kommunikation ist gut, und wir entscheiden gemeinsam“, sagt Gabriel. Insgesamt stehen für die aufwendige Sanierung des historischen Viertels 25,3 Millionen Euro zur Verfügung. Finanziert wird das Projekt von verschiedenen Trägern: aus dem Stadtentwicklungsprogramm RISE, aus Mitteln der Investitions- und Förderbank und aus dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung. Die Steg Hamburg hat außerdem ein Darlehen aufgenommen.
Auch mehr Kleingewerbe soll noch kommen
In einer der seit sieben Jahren sanierten Altbauwohnungen wohnt René Gabriel mit seiner Familie. Um auf den 77 Quadratmetern mitten im Stadtzentrum zu wohnen, braucht die Familie einen Wohnberechtigungsschein. Auch Menschen, die in der Kreativ- oder Kulturwirtschaft tätig sind, haben Chance auf eine der Wohnungen. Und es gibt eine weitere Voraussetzung: „Wer hier lebt, muss sich im Viertel engagieren. Davon lebt dieser Ort“, sagt Gabriel. Wenn das Gesamtprojekt in einigen Jahren abgeschlossen ist, sollen 77 Wohneinheiten zur Verfügung stehen. Aber auch mehr kleine Gewerbeeinheiten soll es geben, zum Beispiel im Speckhaus. „Dort könnte noch eine Fahrradwerkstatt hinkommen oder ein kleines Geschäft – mal sehen“, so Gabriel.
Der Familienvater sitzt an einem der Holztische in der Schierspassage. Seine Haare hat er nach oben gegelt, die AdidasJacke sitzt locker über den Schultern. Neben ihm steht Lena Frommeyer. Die 36 Jahre alte Journalistin ist im Vorstand des Vereins Gängeviertel und für die Kommunikation verantwortlich. Dass von der Community des umkämpften Viertels nun einiges erwartet wird, ist ihr bewusst. Denn nach dem Planungsstopp vor drei Jahren hieß es: Aus dem Gängeviertel solle ein „lebendiges innerstädtisches Wohn- und Kulturquartier mit bezahlbaren Mieten und einem Schwerpunkt auf Nutzungen im künstlerischen Bereich“ werden. Frommeyer: „Nach allem, was wir erreicht haben, wollen wir uns jetzt ja nicht lächerlich machen. Sondern zeigen, dass das hier ein toller und für die Stadt wertvoller Ort ist.“ Das Gängeviertel sei ein gutes Beispiel dafür, wie Kunstschaffende es geschafft haben, so einen Ort den großen Investoren zu entziehen.
Anfragen aus der ganzen Welt
Christine Ebeling, die gerade in der Zeit der Besetzung des Viertels immer wieder für die Community auftrat, ist zudem überzeugt: Das angepeilte „lebendige innerstädtische Quartier“ – das sei das Gängeviertel schon immer gewesen. Es gebe Anfragen für Rundgänge aus der ganzen Welt, Künstler und Musiker seien interessiert. „Fast 2000 Menschen fühlen sich diesem Kollektiv sicherlich zugehörig. Das ist ein großer Gewinn für die Stadt.“ Auch die Mieten hätten sie auf einem vertretbaren Niveau halten können.
René Gabriel stimmt zu. „Das Gängeviertel ist ein offener Ort, an dem Menschen niederschwellig zu Kunst und Kultur kommen, an dem mitten in der Stadt Räume zur Verfügung stehen.“ Das sei schon etwas Besonderes. Denn der Gebäudekomplex umfasst mittlerweile nicht nur Wohnungen und Ateliers, sondern auch Cafés, kleine Läden und andere Treffpunkte. Es gibt Yoga- und Tanzkurse, einen eigenen Radiosender, Workshops und Ausstellungsflächen. Auch mehr sogenannte Künstler Residentials sind geplant: Für diese Wohnungen können Kunstschaffende aus aller Welt sich bewerben und dort für einen begrenzten Zeitraum ein Projekt verwirklichen.
Ein Ort zum Ankommen
Bei einem Besuch im Gängeviertel wird auf jeden Fall klar: Viele Menschen fühlen sich hier wohl. Mit einem Freund spielen Yazan Shaheen und Gerard Pietzryk am Nachmittag Tischtennis in der Schierspassage. Der Ball fliegt in hohem Bogen davon. „Was war das denn?“, witzelt Pietzryk. Zeit für eine Pause. Er holt seinen Tabak heraus. Legt die Beine hoch, dreht sich eine Zigarette. „Ich verbringe hier ab und zu gern Zeit mit Freunden und kenne viele Leute“, sagt der 25-Jährige. Bei der Gestaltung des Innenhofs habe er öfter bei handwerklichen Aufgaben ausgeholfen. Mit knapp 18 Jahren ist der Handwerker aus Polen nach Deutschland gekommen – ganz ohne Eltern. Warum genau, möchte er nicht sagen. Nun wohnt er in Wandsbek, hat sich in Hamburg ein Leben aufgebaut. „Ein Freund von mir, der auch im Gängeviertel aktiv war, ist vor zwei Jahren an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben. Hier erinnern sich viele Menschen an ihn. Auch deshalb komme ich her.“
Yazan Shaheen blickt seinen Kumpel an, er sitzt auf einer Bank, den Rücken an eine Hauswand gelehnt. „2015 bin ich aus Syrien nach Deutschland gekommen“, sagt der 32-Jährige. Vom Gängeviertel habe er durch Bekannte erfahren. „Ich bin hergekommen, weil ich wusste, dass es wichtig ist, mit Menschen in Kontakt zu kommen.“ Im Café Das Grüne Leuchten im Quartier habe er öfter ehrenamtlich geholfen. „Die Gemeinschaft im Gängeviertel hat mir dabei geholfen, Deutsch zu lernen“, sagt der Eimsbüttler. Heute habe er im Verein viele Freunde und komme ab und zu vorbei.
Zielgruppe könnte vielfältiger sein
Und auch für ungewöhnliche Geschäftsideen ist an diesem Ort Platz: 2018 hat Zarah Henschen hat einem kleinen Team den feministischen Sexshop Fuck Yeah an der Caffamacherreihe eröffnet. Der Boden ihres Ladens ist mit Parkett ausgelegt, neben bunten Postkarten stehen Sexspielzeuge in allen Formen und Farben. Das Licht ist warm, fast wie in einem gemütlichen Dekoladen. „Wir wollten einen Diverse-Laden eröffnen, in dem sich alle wohlfühlen“, sagt Henschen. Die Reeperbahn sei dafür nicht infrage gekommen – und andere Vermieter seien wenig offen für das Konzept gewesen. „Im Gängeviertel konnten wir mit niedrigen Mieten starten, geben Workshops in den Seminarräumen und erhalten bei jedem Problem Unterstützung.“ Auch das Publikum in ihrem Geschäft sei gemischt: von Punks mit Bierdosen über Touristen bis hin zu Geschäftsmännern im Anzug sei alles dabei. Aus ihrer Sicht ist es wichtig, in der Innenstadt einen Ort wie das Gängeviertel zu haben – jenseits von kapitalistischen Strukturen und Konsumzwang. „Wir sind hier eine große Familie“, sagt sie.
Und trotzdem: „Natürlich ist nicht alles perfekt“, sagt Lena Frommeyer. Insbesondere die Zielgruppe des Gängeviertels könne breiter gefächert sein. „Hier sind viele weiße, junge Menschen mit einem akademischen Bildungsgrad.“
ConnectedQueerKollektiv und Diversitätsbeauftragte
Damit die Mischung bunter wird, gebe es seit Kurzem zum Beispiel eine Diversitätsbeauftragte und das sogenannte ConnectedQueerKollektiv. „Damit wollen wir darauf achten, dass hier alle Sexualitäten und Geschlechter sich willkommen und wohlfühlen.“ Auch eine „Awarenessgruppe“ sei entstanden. „Wenn jemand bei einem Event diskriminiert oder belästigt wird, kann die Person das Team gezielt ansprechen.“ Dann werde eingegriffen.
Ansonsten habe es in letzter Zeit wenig Schwierigkeiten gegeben. „Manchen direkten Nachbarn war die Musik bei Konzerten zu laut“, so Lena Frommeyer. Gerade Menschen, die in der Pandemie und somit während der Kulturpause hergezogen seien, hätten das nicht gekannt. „Aber das sind normale Nachbarschaftsprobleme. Da hilft es nur zu vermitteln.“
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Und dann sei da noch das Konzept der Selbstverwaltung. „Das ist das Beste und gleichzeitig das Anstrengendste“, sagt die Journalistin. Denn wenn jede Person Mitspracherecht habe, könne das Diskussionen in die Länge ziehen. „Aber wenn wir die Welt anders und ohne Hierarchien gestalten wollen, müssen wir da durch.“ Denn mit dem großen Angebot des Viertels nehme auch die Professionalisierung zu. „Das müssen wir kritisch betrachten. Hier zählt jede Stimme gleich“, sagt Gabriel. „Für mich ist das gelebte Utopie.“
Und trotz der Schwierigkeiten betont Enno Isermann, Sprecher der Kulturbehörde: „Die Selbstverwaltung klappt wirklich gut, da steckt viel Engagement dahinter.“ Aushandlungen mit Nachbarn über die Lautstärke gehörten in der Innenstadt dazu. „Das zeigt ja auch, dass der Ort lebendig ist“, sagt er. Für die freie Kunstszene sei das Gängeviertel mitten in der Stadt ein wichtiger Ort geworden.
Auch CDU sieht Gängeviertel als lebendigen Kulturort
Doch von außen gibt es auch Kritik: Roland Hoitz von der CDU sieht vor allem die Art des Widerstands der Gemeinschaft nach 2009 als nicht richtig an. Allein die Methode, die Häuser einfach zu besetzen, sei fragwürdig gewesen. Durch Druck sei gewissermaßen „erzwungen“ worden, dass die Gebäude den Kunstschaffenden zur Verfügung stehen – noch bevor alles für viel Geld saniert wurde. Auch der vier Jahre lange Planungsstopp habe dem Quartier nicht gutgetan.
„Bei solchen maroden Gebäuden kommt es auf jeden Winter an, da muss schnell saniert werden. Sonst wird es aufwendiger, teurer oder gar unrettbar.“ Dabei sei gerade der Erhalt der Gebäude ja oberstes Ziel. Darüber hinaus wünscht er sich eine breitere Wahrnehmung des Gängeviertels in der Öffentlichkeit. „Die Gemeinschaft könnte ruhig offener werden und vor allem mehr auf sich aufmerksam machen.“ Trotzdem räumt er ein: Das Gängeviertel sei lebendiger Kulturort. Zwischen Stadt und Verein gebe es mittlerweile eine gute Zusammenarbeit. René Gabriel sieht das Quartier als Blaupause. „Im Gängeviertel ist das Wohnen familiär und nicht so anonym wie sonst in Großstädten. Das wünsche ich mir auch für andere Quartiere.“
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