Hamburg. Nach der Einnahme von Drogen und einem Geschlechtsverkehr erstickt eine 20-Jährige in einem Fahrradkeller in Hamburg-Neuallermöhe. Ein junger Mann ist wegen Totschlags angeklagt. Das Gericht glaubt nicht, dass er sie aktiv getötet hat - hält ihn aber dennoch für schuldig.

Am Tod einer jungen Frau in Hamburg-Neuallermöhe trägt ein 24-Jähriger nach Überzeugung des Landgerichts nur eine indirekte Schuld. Die Strafkammer verurteilte ihn am Montag zu neun Jahren Haft. Der Angeklagte habe sich des versuchten Mordes durch Unterlassen und des Überlassens von Betäubungsmitteln mit Todesfolge schuldig gemacht, erklärte die Vorsitzende der Strafkammer, Birgit Woitas, in ihrer Urteilsbegründung. "Wir haben es hier mit einer schwierigen Beweissituation zu tun", fügte sie hinzu.

Es könne nicht mit hinreichender Sicherheit gesagt werden, dass der Libyer die Frau vergewaltigt und ihr aktiv die Atemwege verdeckt habe. Die 20-Jährige war am 9. oder 10. Januar 2021 durch Ersticken im Fahrradkeller eines Mehrfamilienhauses gestorben, in dem sie mit ihren Eltern wohnte. "Die Kammer ist davon überzeugt, dass Sie verantwortlich sind für den Tod (der Frau), die im Alter von nur 20 Jahren verstorben ist", sagte Woitas.

Der Angeklagte und die junge Frau hätten sich spätestens im Frühjahr 2020 kennen gelernt. Bei ihren Treffen hätten sie gemeinsam Marihuana konsumiert. Es sei nicht auszuschließen, dass sie dabei auch Sex hatten, erklärte die Richterin. Im Herbst habe die Frau den Kontakt abbrechen wollen, weil der Angeklagte wieder Umgang mit einer früheren Freundin hatte. Der 24-Jährige habe das ignoriert und die 20-Jährige immer wieder zu kontaktieren versucht, vor ihrem Haus gewartet, sie verfolgt und einmal auch ins Gesicht geschlagen.

Sie habe das als Stalking empfunden und ihm geschrieben: "Lass mich in Ruhe!" Sie sei im Dezember auch zur Polizei gegangen, habe dort aber wahrheitswidrig angegeben, dass sie den Mann erst seit einem Monat kenne. Kurz darauf habe sie wieder Kontakt zu ihm aufgenommen und ihn um Drogen gebeten. Anfang Januar 2021 habe sie ihm nachts geschrieben, dass sie nicht schlafen könne und ob er vorbeikommen könne. Wie weit die Annäherung ging, konnte das Gericht nicht aufklären.

Am Abend des 9. Januar hätten sich die beiden erneut an einer Bushaltestelle verabredet. Er habe ihr eine Methadon-Tablette und ein krampflösendes Medikament gegeben. Danach hätten beide Geschlechtsverkehr im Freien in der Nähe ihre Wohnhauses gehabt. Dass dieser gegen den Willen der Frau geschehen sei, sei nicht zweifelsfrei festzustellen, erklärte die Richterin. Möglicherweise sei sie aus Dankbarkeit für die Drogen, die sie stets unentgeltlich bekam, zum Sex bereit gewesen.

Infolge der Methadon-Einnahme sei es der 20-Jährigen schlecht gegangen und sie sei bewusstlos geworden. Der Angeklagte habe sie in den Fahrradkeller geschleift, wo sie sich auch schon früher oft getroffen hatten. Er habe sie auf Decken gebettet und sich neben sie gelegt. "In dem Moment hätten Sie ärztliche Hilfe holen müssen", sagte Woitas zu dem Angeklagten. Obwohl er die Gefährlichkeit des Methadons erkannt habe, habe er nichts unternommen.

Im Prozess sei jedoch unklar geblieben, wann er bemerkte, dass die 20-Jährige ohne Hilfe sterben würde. Zugleich sei offen, ob die Frau zu jenem Zeitpunkt noch hätte gerettet werden können. Darum sei die Tat als Mordversuch durch Unterlassen zu bewerten. Das Mordmerkmal sei die Absicht gewesen, eine andere Straftat zu verdecken. Er habe befürchtet, dass seine Drogenabgabe herauskommen würde.

Spätestens um 12.15 Uhr sei die Frau tot gewesen. Zwei Stunden später ging der Angeklagte zu einem Imbiss, um Hilfe zu holen, wie er über seine Verteidiger erklärt hatte. Dort habe er erst nach dem Verzehr eines Essens und eines Getränks jemanden gebeten, die Rettungskräfte zu alarmieren. Die Sanitäter konnten aber nur noch den Tod der jungen Frau feststellen. Als sie die Polizei riefen, ergriff der Angeklagte die Flucht. Kurze Zeit später wurde er in der Nähe festgenommen.

Bei der Erklärung der Strafzumessung stellte die Richterin fest: "(Die 20-Jährige) trifft eine Mitverantwortung für den eigenen Tod. Sie hat sich mit Drogen versorgen lassen, hat Methadon eingenommen, obwohl sie wusste, dass das eine gefährliche Droge ist."

Die Staatsanwaltschaft war von einem Mord in Tateinheit mit Vergewaltigung und einem sexuellen Übergriff ausgegangen. Sie hatte wie die Nebenklage lebenslange Haft gefordert. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert.

Der Angeklagte und die Eltern des Opfers verfolgten die Urteilsverkündung mit starrem Blick. Die Anwältin der Eltern, Claudia Krüger, kündigte an, dass sie als Nebenklagevertreterin zunächst formal Revision einlegen und dann die schriftliche Urteilsbegründung abwarten werde. Ob die Eltern vom Strafmaß enttäuscht seien, könne sie nicht sagen: "Das Leid überwiegt."

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