Kiel. Die Nord-SPD steckt nach ihrem Wahldebakel in einem neuen Dilemma: Wer soll die Landtagsfraktion führen? Spitzenkandidat Losse-Müller wollte Amtsinhaberin Midyatli zur Wiederwahl vorschlagen, doch die Entscheidung wurde vertagt. Ein Wechsel erscheint denkbar.

Die schwere Niederlage der SPD bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein hat eine erste Konsequenz. Die Landtagsfraktion setzte die Neuwahl des Fraktionsvorsitzes am Dienstag kurzfristig ab, wie aus einer Mitteilung der Amtsinhaberin Serpil Midyatli (46) und des Spitzenkandidaten Thomas Losse-Müller (49) hervorgeht. Dieser hatte noch am Montag angekündigt, er werde Midyatli am Dienstag zur Wiederwahl vorschlagen. Auf einer Landesvorstandssitzung wurde er am Montagabend aber auch selbst als Fraktionschef ins Spiel gebracht.

Am Dienstag kursierten im Kieler Landeshaus Spekulationen, Midyatli könnte als Fraktionsvorsitzende zurücktreten, doch dazu kam es nicht. Wann gewählt wird, ließen Midyatli und Losse-Müller offen. In der nächsten Woche gibt es eine Klausursitzung der Fraktion in Hohwacht.

"Bisher war es üblich, dass in der ersten Fraktionssitzung nach der Wahl die neu gewählten Abgeordneten den Fraktionsvorsitz wählen ­ auch für anstehende Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen", heißt es in der Mitteilung. "Wir haben zudem immer betont, dass wir jederzeit bereit sind, von eingespielten Verfahren abzuweichen, wenn der Wunsch dazu besteht."

Es habe bei einem unerwartet bitteren Wahlergebnis - 16 Prozent - großen Gesprächsbedarf gegeben, sagte Midyatli nach einer fast dreistündigen Fraktionssitzung. "Und da war sozusagen Fraktionsvorsitz nicht an erster Stelle." Es werde dazu eine gemeinsame Entscheidung geben.

Auf die Frage, ob er für den Fraktionsvorsitz bereitstünde, sagte Losse-Müller, alles werde in Ruhe betrachtet. In der Fraktion habe es eine zugewandte, angenehme Diskussion gegeben. "Uns ist allen klar, dass wir uns mit der gesamten Fraktion als Team aufstellen werden und dass wir da Lösungen finden, die die ganze Fraktion trägt."

Die von 21 auf 12 Abgeordnete verkleinerte Fraktion werde eine ganz andere Struktur haben, sagte Midyatli. "Bei uns gibt es definitiv kein "Weiter so"", meinte sie in Anspielung auf den Wahlkampfslogan des Ministerpräsidenten Daniel Günther (CDU). Deswegen nehme sich die Fraktion Zeit. "Uns drängt nichts." Auf die Frage, ob sie weiter zur Verfügung stehe, sagte Midyatli: "Das werden wir alles miteinander besprechen auf der Klausur".

Midyatli führt die Nord-SPD seit drei Jahren und seit Juli vorigen Jahres die Fraktion. Sie ist zudem stellvertretende Bundesvorsitzende der Partei. Am Montagabend diskutierte die SPD-Landesspitze kritisch über Konsequenzen aus der Wahlschlappe. Für Unmut sorgte in der Partei das Verfahren zur Spitzenkandidatur. Midyatli hatte im August 2021 mit der Personalie Losse-Müller für eine Überraschung gesorgt. Der langjährige Landesvorsitzende Ralf Stegner nannte Losse-Müller einen guten Kandidaten. Nach seiner Ansicht wäre es möglicherweise besser gewesen, es hätte einen parteiinternen Vorwahlkampf gegeben.

In der Mitteilung von Losse-Müller und Midyatli hieß es, für sie sei es selbstverständlich, auf Anregung von Teilnehmern der Landesvorstandssitzung "alle strukturellen Fragen gemeinsam zu klären". Die Fraktionsklausur sei eine gute Gelegenheit, den Fraktionsvorsitz neu zu wählen", sagte der Bildungspolitiker Martin Habersaat.

Für die Wahlniederlage mache er niemanden persönlich verantwortlich. "In erster Linie hat Daniel Günther die Wahl gewonnen", sagte Habersaat. An der Sitzung am Dienstag nahmen auch Mitglieder der alten Fraktion teil, darunter Kai Vogel, der es auf Platz 15 der Landesliste nicht wieder in den Landtag schaffte. Wer am geeignetsten für den Fraktionsvorsitz sei? "Ich würde es für geeignet erachten, dass diejenigen, die die Funktion jetzt innehaben, mal in sich gehen, ob sie eventuell auch einen Teil der Wahlniederlage mit zu verantworten haben", sagte Vogel.

Die SPD-Landesspitze hatte am Montagabend die Wahlniederlage kritisch aufgearbeitet. "Ein weiter so geht definitiv nicht", sagte Midyatlis Vorgänger Stegner. Nach dpa-Informationen gab es in der Sitzung massive Kritik. Die Diskussion sei aber von Fairness geprägt gewesen. "Es war kein Tribunal gestern oder so etwas in der Art", sagte Habersaat. Es seien Gründe für die Wahlniederlage benannt und verschiedene Perspektiven diskutiert worden. Als Fraktionsvorsitzende sei Midyatli allemal geeignet.

Aber: "Es gibt Leute, die gesagt haben: "Jetzt hatten wir mit Thomas Losse-Müller einen Spitzenkandidaten, der ist es nicht geworden (Ministerpräsident), und dann sollte er auch Fraktionsvorsitzender werden" - das kann ich als Position nachvollziehen", sagte Habersaat. Dieser Wunsch sei von einigen artikuliert worden. "Aber Thomas Losse-Müller sagt, er schlägt Serpil Midyatli vor als Fraktionsvorsitzende und das kann ich auch gut nachvollziehen." Midyatli hatte am Montagabend betont, sie wolle mit Losse-Müller weiter ein Team bilden: "Wir stehen zusammen, jederzeit."

© dpa-infocom, dpa:220510-99-226978/5