Hamburg. Ein junger Mann sieht eine junge Frau, findet sie attraktiv und spricht sie an. Sie sagt nein, und nach weiteren Annäherungsversuchen “Du nervst!“. Er akzeptiert das nicht, stellt ihr nach und greift schließlich zur Pistole. Jetzt muss er für lange Zeit ins Gefängnis.

Ein Jahr lang stellt ein junger Mann in Hamburg-Wilhelmsburg einer Abiturientin nach, dann schießt er auf deren Mutter und tötet die 53-Jährige beinahe. Das Landgericht Hamburg hat den Mann am Donnerstag zu elfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Der 24-Jährige habe sich des Mordversuchs in zwei Fällen, gefährlicher Körperverletzung, Bedrohung, Verbreitung pornografischer Inhalte und weiterer Straftaten schuldig gemacht, erklärte die Vorsitzende der Strafkammer, Birgit Woitas.

Der Angeklagte hatte nach Überzeugung des Gerichts am 11. März vergangenen Jahres auf die Mutter und ihren damals 13 Jahre alten Sohn geschossen - vor dem Haus der Familie. Motiv für die Tat war die Verärgerung des in der Türkei geborenen Mannes über die Tochter der 53-Jährigen. Die Abiturientin habe seine Annäherungsversuche zurückgewiesen. Er habe das nicht akzeptiert und sie über ein Jahr lang gestalkt, sagte die Richterin.

Der Angeklagte ohne Schulabschluss, Ausbildung und Arbeit habe sich nach einem Ausweg aus seinem tristen Leben gesehnt. Er habe Marihuana geraucht und sich von seinem älteren Bruder bevormundet gefühlt. Die Abiturientin habe er auf der Straße gesehen und anziehend gefunden. Er sprach sie mehrfach an, bis sie sagte "Du nervst!". Die 17-Jährige bekam Angst und ließ sich von ihren Eltern zur Schule begleiten. Klassenkameraden forderten den jungen Mann auf, ihre Mitschülerin in Ruhe zu lassen. Die Polizei ordnete ein Kontaktverbot an. Dreimal hätten die Beamten auch eine Gefährderansprache gemacht, sagte Woitas.

Im September 2020 lauerte er der Abiturientin erneut auf, beleidigte sie als "Schlampe" und schlug ihr auf den Hinterkopf. Sie machte ein Foto von ihm und flüchtete sich ins Haus. Er trat so heftig gegen die Tür, dass eine Scheibe zu Bruch ging. Die Mutter zeigte das Foto des Stalkers einer Nachbarin, weil sie Angst vor dem Unbekannten hatte.

Anfang 2021 schickte der Angeklagte einer unbeteiligten Frau über Instagram Beleidigungen, Drohungen sowie Fotos einer Pistole und seines erigierten Penis, weil er sie irrtümlich für die Abiturientin hielt. Sie sei eine "scheinheilige Bitch", schrieb er. Er könne sich gerade nur schwer davon abhalten, nicht ihrer ganzen Familie "in den Kopf zu schießen". Zudem versuchte er über Fake-Accouts, Treffen zwischen der Frau und fremden Männern zu arrangieren.

Seine Instagram-Nachrichten habe er immer spätabends und nachts versandt, sagte Woitas. Auch zum Haus der Familie sei er nachts gegangen und habe geklingelt, um ihr Angst zu machen.

Am Tattag hatte ihm sein Bruder 60 Euro gegeben, die er für ihn bei einem Wettbüro einzahlen sollte. Doch auf dem Weg dahin geriet der Angeklagte in eine Fahrkartenkontrolle und musste wegen Schwarzfahrens 40 Euro bezahlen. Anschließend traute er sich nicht nach Hause, weil er den Zorn des Bruders fürchtete. Er setzte sich auf eine Bank und habe das Gefühl gehabt, dass ihn alle Menschen anstarrten, sagte die Richterin. Da er annahm, die Mutter der Abiturientin habe im Stadtteil Fotos von ihm herumgezeigt und ihn als Vergewaltiger verleumdet, geriet er in Wut.

Mit seiner Monate vorher gekauften Pistole ging er am Nachmittag zum Wohnhaus der Familie und wartete dort. Nach etwa einer Stunde kam die Mutter mit dem Sohn vom Einkaufen zurück. Vor dem Eingang habe der Angeklagte etwas Unverständliches gerufen und sie angeschrien. Dann habe er die Beretta aus dem Hosenbund gezogen und mindestens viermal auf die beiden geschossen. Die 53-Jährige wurde im Gesicht getroffen. Der körperlich unverletzte Sohn zog die Mutter ins Haus und schloss die Tür. Die Mutter schwebte in Lebensgefahr. Sie lag acht Tage in einem künstlichen Koma und musste mehrmals operiert werden, wie Woitas sagte.

Der Schütze floh und stellte sich später der Polizei. Den Polizisten, die ihn festnahmen und mit aufs Revier nahmen sagte er nach Angaben der Richterin: "Jetzt habe ich wegen dieser Schlampe mein Leben versaut." Im Prozess habe er das Tatgeschehen weitgehend eingeräumt. Allerdings habe er angegeben, er habe die Mutter nicht töten, sondern ihr nur Angst einjagen wollen. Die Strafkammer ging von einem bedingten Tötungsvorsatz aus. Das Mordmerkmal der Heimtücke sei erfüllt. Die elfeinhalb Jahre bezeichnete Woitas als "eine erhebliche Strafe". Staatsanwaltschaft und Nebenklage hatten lebenslang gefordert, der Verteidiger nur fünf Jahre.

Woitas ermahnte den Angeklagten, die Haftzeit für eine Sozialtherapie zu nutzen. Sonst werde er eine ähnliche Straftat erneut begehen. Ein Gutachter habe eine Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen Anteilen festgestellt. Sie habe nicht den Eindruck, dass sich der Angeklagte in irgendeiner Weise mit der Tat auseinandergesetzt habe. "Ich halte Sie für hochgefährlich", sagte Woitas. Der 24-Jährige schaute sie bei der Urteilsverkündung aufmerksam an, ohne eine Regung zu zeigen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

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