Prozess

Nach Unfall in Hamburger City: Mildes Urteil für Raser

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Bettina Mittelacher
An der Lombardsbrücke endete Jürgen T.’s Fahrt.

An der Lombardsbrücke endete Jürgen T.’s Fahrt.

Foto: Constantin Decker

Angeklagter war mit 193 km/h durch die Stadt gerast und hatte Menschen schwer verletzt. Er ist psychisch krank. Über das Urteil.

Hamburg. Ein Auto rast mit horrender Geschwindigkeit durch die Hamburger City, gerät in den Gegenverkehr und verursacht ein schweres Verkehrsunglück. Der Fall, der jetzt vor dem Hamburger Landgericht verhandelt wurde, erinnert in vielerlei Hinsicht an eine folgenschwere Kollision vom Mai 2017 – das irrsinnig hohe Tempo, der Fahrer, der auf die Gegenfahrbahn steuert, der Unfallort nahe des Ballindamms.

Doch anders als in dem früheren Prozess, in dem Ricardas D. seinerzeit wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde, bleibt Unfallfahrer Jürgen T. heute nicht hinter Gittern. Denn trotz einiger Parallelen mit dem Crash von vor viereinhalb Jahren sind die Umstände bei dem Fall, über den die Kammer am Montag zu entscheiden hatte, doch in mehrfacher Hinsicht andere.

Prozess: Angeklagter psychisch krank

Zwar preschte Jürgen T. am 2. Dezember vergangenen Jahres mit einer Spitzengeschwindigkeit von 193 km/h durch die City und verursachte immer noch bei Tempo 125 eine Kollision mit zwei Schwerverletzten. Gleichwohl ist der 33-Jährige nach Überzeugung des Gerichts kein Mann, der rücksichtslos das Gaspedal durchdrückte – und dem dabei gleichgültig war, ob er das Leben anderer gefährdet.

Der Hamburger ist vielmehr psychisch krank, von seiner Schuldunfähigkeit ist auszugehen. Die Vorsitzende Richterin Birgit Woitas spricht zwar von einem „hochgefährlichen Fahrmanöver“, das Jürgen T. durchgezogen habe. Üblicherweise sei es so: „Wenn jemand mit Tempo 193 durch die Stadt rast, muss man davon ausgehen“, dass er eine Tötung anderer Verkehrsteilnehmer „billigend in Kauf nimmt. So ist es hier aber nicht.“

Unterbringung in Psychiatrie angeordnet

Das Gericht ordnet für Jürgen T., der unter einer bipolaren Störung leidet, die Unterbringung in der Psychiatrie an. Allerdings setzt es die Vollstreckung dieser Maßnahme zur Bewährung aus. Damit folgt die Kammer dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Die Bewährungsauflagen für den Beschuldigten, der bereits freiwillig seinen Führerschein abgegeben hatte: Er darf unter anderem fünf Jahre lang keine Fahrerlaubnis erhalten und muss sich in ambulante Therapie begeben. Der Mann, der der Urteilsverkündung ruhig und offenbar nachdenklich folgt, nimmt die Entscheidung sofort an.

Jürgen T., Mitarbeiter in der Flugzeugtechnik, war am frühen Morgen des 2. Dezember mit einem geliehenen Audi A 3 Sportback auf dem Weg zur Arbeit, als das schwere Unglück geschah. Zunächst war er extrem langsam unterwegs, fühlte sich dann durch Autofahrer hinter ihm, die die Lichthupe betätigten, bedrängt.

Hamburger rast mit 193 km/h durch die City

Zudem geriet er in Panik, er könne zu spät zum Dienst kommen. Nun begann seine rasende Fahrt, die mit einem beinahe tödlichen Crash endete: Er schaltete die Warnblinklichter des Audi an und beschleunigte stark. Am Mundsburger Damm überholte er einen Bus und fuhr auf die Gegenfahrbahn. An der Alster trat er das Gaspedal vollständig durch und erreichte so die mögliche Maximalgeschwindigkeit des Autos mit 193 km/h.

Eine Frau, die mit dem Fahrrad unterwegs war, hielt trotz Grün auf der Mittelinsel einer Straße – das rettete ihr das Leben. Am Ferdinandstor geriet Jürgen T. erneut in den Gegenverkehr. Als ihm zwei Autos entgegenkamen, trat er noch auf die Bremse, war nun aber immer noch mit Tempo 125 unterwegs. So kollidierte er frontal mit den beiden Fahrzeugen. Ein 52-Jähriger und ein 55-Jähriger, die jeweils am Steuer der anderen Autos saßen, wurden erheblich verletzt, mit Organverletzungen, Knochenbrüchen und Schädelprellungen.

Jürgen T. leidet an bipolarer Störung

Die Kollision war so heftig, dass an einem Auto der Motorblock herausgerissen wurde. Zum Zeitpunkt der Unfallfahrt befand sich Jürgen T. in einer manischen Phase seiner bipolaren Störung. In solchen manischen Perioden sei eine „Selbstüberschätzung immanent“, erläutert die Vorsitzende Richterin. Es sei nicht auszuschließen, dass er glaubte, seinen Wagen trotz des hohen Tempos „vollständig kontrollieren zu können“.

Weil somit nicht sicher festgestellt werden könne, dass Jürgen T. durch seine Fahrweise den Tod anderer billigend in Kauf gekommen hat, sei er nicht wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung zu verurteilen, wie es ihm ursprünglich vorgeworfen wurde. „Wir können nicht sicher sagen, dass er die Gefahr gesehen und sich überhaupt damit auseinandergesetzt hat“, betont Richterin Woitas. „Viel spricht dafür, dass er dazu überhaupt nicht in der Lage war.“

Prozess: Mildes Urteil für angeklagten Hamburger

Vielmehr sei der 33-Jährige lediglich wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr sowie fahrlässiger Körperverletzung zu verurteilen. Weil Jürgen T. zur Tatzeit wegen seiner Erkrankung schuldunfähig war, sei die Frage der Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie zu prüfen gewesen. Laut Sachverständigen sei eine „Gefährlichkeitsprognose ganz klar zu bejahen“.

Allerdings sehe Jürgen T., der sich seit dem Crash in der Psychiatrie befunden hat, ein, dass er krank sei, und nehme an der Behandlung gewissenhaft teil. Deshalb könne die Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt werden. Die Vorsitzende wendet sich eindringlich an Jürgen T: „Es muss Ihnen klar sein, dass das nie wieder passieren darf. Weder für die Allgemeinheit, noch für Sie.“

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